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Der Newsletter Vergaberecht wird in Kooperation mit der Kanzlei CMS Hasche Sigle entwickelt. Weiterhin werden regelmäßig Gastbeiträge von bekannten Persönlichkeiten aus dem Vergabebereich erscheinen. Wir freuen uns,  dazu beizutragen, dass Ihr Wissen immer auf dem aktuellsten Stand ist.


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Seit Januar 2010 erstellen wir den Vergabe-Newsletter in enger Zusammenarbeit mit CMS Hasche Sigle.

Als eine der führenden Anwaltssozietäten auf dem Gebiet des Vergaberechts berät CMS Hasche Sigle sowohl Auftraggeber als auch Unternehmen in Vergabeverfahren und Nachprüfungsverfahren. Die Anwälte verfügen über fundierte Branchenkenntnisse , handeln vorausschauend und bieten Ihnen rechtssichere und zugleich individuelle Strategien für Ihre Auftragsvergabe oder Ihr Angebot.


Mit über 20 Rechtsanwälten an allen Standorten von CMS Hasche Sigle hat die Kanzlei eines der größten Vergaberechtsteams in Deutschland und ist zugleich immer in Ihrer Nähe.
 

 

Gastbeiträge unter anderem von:

Heuking Kühn Lüer Wojtek ist mit weit mehr als 200 Rechtsanwälten an sieben Standorten in Deutschland sowie in Brüssel und Zürich eine der großen wirtschaftsberatenden Anwaltssozietäten. Einer der Schwerpunkte liegt in der Beratung von Projekten der öffentlichen Hand.

Insbesondere im Vergaberecht zählt Heuking Kühn Lüer Wojtek seit Jahren zu den deutschlandweit bestbewerteten Anwaltssozietäten. Hier werden komplette Vergabeverfahren konzipiert und bis zum rechtssicheren Zuschlag praxisgerecht umgesetzt.

 Dabei werden pragmatisches, wirtschaftliches Denken mit einer Beratung in allen auftretenden Rechtsfragen, nicht nur im Vergaberecht, sondern auch z. B. im Kommunalrecht, Haushaltsrecht, Vertragsrecht, Fördermittel- und Beihilferecht verbunden. Falls erforderlich werden Mandanten in Nachprüfungsverfahren - mit weit überdurchschnittlichem Erfolg - vertreten.

 

April 2024

Kommunale Wohnungsbauunternehmen als öffentlicher Auftraggeber

(OLG Karlsruhe Beschluss vom 06.09.2023 – 15 Verg 5/23)

Ein kommunales Wohnungsbauunternehmen in der Rechtsform einer GmbH beabsichtigte, Landschaftsbauarbeiten für ein Bauvorhaben ohne europaweite Ausschreibung und ohne Einhaltung der Vorschriften nach der VOB/A zu vergeben. Alleingesellschafterin des Unternehmens ist die Stadt K. Deren Bürgermeister ist nach den Bestimmungen des Gesellschaftsvertrags Mitglied des Aufsichtsrates, weitere sieben Mitglieder des elfköpfigen Aufsichtsrats sind zugleich Mitglieder des Stadtrates. Gegenstand des Unternehmens ist nach dem Gesellschaftsvertrag die Versorgung breiter Schichten der Bevölkerung mit Wohnungen, wozu auch die angemessene Wohnversorgung einkommensschwacher Bevölkerungskreise zählt. Ein nicht berücksichtigtes Unternehmen rügte die unterbliebene europaweite Ausschreibung. Nachdem seiner Rüge nicht abgeholfen wurde, stellte es einen Nachprüfungsantrag.

Das OLG Karlsruhe gab dem rügenden Unternehmen Recht und verpflichtete das Wohnungsbauunternehmen, die Landschaftsbauarbeiten bei fortbestehender Beschaffungsabsicht europaweit auszuschreiben. Das kommunale Wohnungsbauunternehmen sei öffentlicher Auftraggeber im Sinne von § 99 Nr. 2 GWB. Es sei nach der konkreten Ausgestaltung davon auszugehen, dass die Stadt als Alleingesellschafterin in der Lage sei, die Geschäftsführung des Unternehmens tatsächlich zu kontrollieren. Der soziale Wohnungsbau und die soziale Wohnraumförderung durch das Wohnungsbauunternehmen seien als Bestandteil der Daseinsvorsorge im Allgemeininteresse liegende Aufgaben. Ob und in welchem Umfang die Gesellschaft neben der Tätigkeit im Bereich geförderter Wohnungen und von Wohnungen für Haushalte mit geringem Einkommen auch Wohnbau ohne staatliche Förderung betreibe, könne dahinstehen. Schließlich erfülle das Unternehmen Aufgaben nichtgewerblicher Art: Zwar sei davon auszugehen, dass sich das Wohnungsbauunternehmen in einem entwickelten Marktumfeld bewegt. 

 





Dies lasse aber für sich genommen, nicht zwingend den Schluss zu, dass die fragliche Tätig-keit gewerblicher Art ist. Gerade im Bereich der Versorgung breiter Bevölkerungsschichten mit angemessenem Wohnraum wolle der Staat entscheidenden Einfluss behalten, was auch in der konkreten gesellschaftsrechtlichen Ausgestaltung zum Ausdruck komme. Dass das Woh-nungsbauunternehmen Überschüsse erziele, stehe einer Einordnung als öffentlicher Auftrag-geber ebenfalls nicht entgegen. Es sei unschädlich, wenn die juristische Person neben der im Allgemeininteresse liegenden Aufgabe nichtgewerblicher Art auch – in Gewinnerzielungsab-sicht – andere Tätigkeiten ausübt. Für die Beurteilung der Frage, ob die kommunale Gesell-schaft die mit ihrer Tätigkeit verbundenen Verluste trage, komme es nicht entscheidend da-rauf an, dass im Gesellschaftsvertrag ein Mechanismus zum Ausgleich etwaiger Verluste nicht vorgesehen ist. Vielmehr genüge, dass die beherrschende Kommune die Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft aller Voraussicht nach nicht in Kauf nehmen und soweit erforderlich eine Rekapi-talisierung der Gesellschaft durchführen würde.

Das OLG Hamburg (Beschluss vom 11.02.2019 – 1 Verg 3/15) hat das Tatbestandsmerkmal der nichtgewerblichen Art bei Wohnungsbaugesellschaften in der Vergangenheit verneint (an-ders OLG Rostock, Beschluss vom 02.10.2019 – 17 Verg 3/19; OLG Brandenburg, Beschluss vom 06.12.2016 – 6 Verg 4/16). Anlass für eine Divergenzvorlage an den Bundesgerichtshof sah das OLG Karlsruhe dennoch nicht, da seine Entscheidung nicht auf einem anderen Rechtssatz, sondern auf einer einzelfallbezogenen Wertung derselben Rechtssätze und abwei-chenden kommunalrechtlichen Vorschriften beruhe. Generelle Aussagen über die öffentliche Auftraggebereigenschaft aller öffentlichen Wohnungsbaugesellschaft lassen sich aus der Ent-scheidung des OLG Karlsruhe daher nicht ableiten.

Dr. Volkmar Wagner
CMS Hasche Sigle, Stuttgart

März 2024

Beteiligung des Projektanten am späteren Vergabeverfahren: wie weit muss der Auftraggeber gehen, um den Wissensvorsprung des Projektanten auszugleichen?

(VK Bund, Beschluss vom 18.09.2023 – VK 2-68/23)

Der Auftraggeber schreibt Leistungen auf der Grundlage der VSVgV aus. Für die Vorbereitung des Vorhabens und des Vergabeverfahrens beauftragt der Auftraggeber einen Projektsteuerer, der wiederum ein anderes Unternehmen als Nachunternehmer beauftragt. Dieser Nachunternehmer nimmt am späteren Vergabeverfahren teil; der Auftraggeber beabsichtigt, ihm den Zuschlag zu erteilen. Ein Konkurrent greift die beabsichtigte Zuschlagserteilung an und macht einen nicht ausgeglichenen Wissensvorsprung wegen der Projektantenstellung des Nachunternehmers geltend.

Die Vergabekammer gibt dem Konkurrenten teilweise recht. Allerdings muss der Nachunternehmer nicht vom Vergabeverfahren ausgeschlossen werden. Ein Ausschluss sei nur dann gerechtfertigt, wenn die Wettbewerbsverzerrung nicht durch andere, weniger einschneidende Maßnahmen beseitigt werden könne. Dies könne hier schon durch die Streichung eines qualitativen Unterkriteriums (Entwicklung eigener Lösungsansätze) erreicht werden, da der Nachunternehmer (nur) insoweit einen unvermeidbaren Informations- und Wettbewerbsvorteil habe, der seinen Konkurrenten nicht zur Verfügung steht.


 










An dem Beschluss zeigt sich einmal mehr, dass der Ausschluss eines Projektanten nur als ultima ratio in Betracht kommt. Auftraggeber müssen im konkreten Fall prüfen, welche anderen, weniger einschneidenden Mittel in Betracht kommen. Ein solches Mittel steht hier zur Verfügung, so dass auch der Nachunternehmer sich um den von ihm teilweise mitprojektierten Auftrag bewerben kann.

Gegen die Entscheidung wurde Beschwerde beim OLG Düsseldorf eingelegt (Verg 33/23), so dass sie nicht bestandskräftig ist.

Dr. Volkmar Wagner
CMS Hasche Sigle, Stuttgart

Februar 2024

Der Bieter verwendet in seinem Angebot bei einer Fabrikatsangabe den Zusatz 'oder gleichwertig' – Ausschluss!

(VK Bund, Beschluss vom 16.05.2023 – VK 2-28/23)


Der Auftraggeber schreibt den (Ersatz-) Neubau einer Brücke europaweit aus. Einziges Zuschlagskriterium ist der Preis. Bestandteil der Leistung ist die Herstellung von zwei Straßenhilfsbrücken, die der Auftraggeber als Leitfabrikat mit dem Zusatz 'oder gleichwertig' vorgibt. Der Bestbieter führt in seinem Angebot jeweils das Leitfabrikat auf, ergänzt dies allerdings seinerseits um den Zusatz 'o. glw.' Der zweitplatzierte Bieter zieht daraufhin vor die Vergabekammer, weil er davon ausgeht, dass der Bestbieter das Leitfabrikat nicht liefern kann.

Die Vergabekammer untersagt die Erteilung des Zuschlags an den Bestbieter. Sein Angebot ist gem. § 13 Abs. 1 Nr. 5 VOB/A-EU i.V.m § 16 Nr. 2 VOB/A-EU wegen Unbestimmtheit vom Vergabeverfahren auszuschließen. Erhielte der Bestbieter den Zuschlag, könnte er nach seiner Wahl entweder das Leitfabrikat oder ein bislang nicht namentlich genanntes anderes Produkt, welches nach seiner Auffassung gleichwertig ist, anbieten. Eine Aufklärung ist unzulässig, weil diese eine Änderung gegenüber dem unbestimmten Angebot darstellen würde und damit gegen das Verhandlungsverbot in § 15 Abs. 3 VOB/A-EU verstoßen würde.

 








Die Verwendung des Zusatzes 'oder gleichwertig' ist für Bieter – anders als für Auftraggeber – im Vergabeverfahren nicht zulässig, da sie zur Unbestimmtheit des Angebotes führt. Ein Bieter, der neben dem Leitfabrikat ein anderes Fabrikat angeben will, muss dieses konkret benennen, damit der Auftraggeber die Gleichwertigkeit im Vergabeverfahren überprüfen kann.

Gegen die Entscheidung wurde Beschwerde beim OLG Düsseldorf eingelegt (Verg 17/23), so dass sie nicht bestandskräftig ist.

Dr. Volkmar Wagner
CMS Hasche Sigle, Stuttgart
 

Januar 2024

Zum Erfordernis der vertraglichen Absicherung bei Qualifikation des Personals als Zuschlagskriterium

(VK Südbayern, Beschluss v. 30.03.2023 - 3194.Z3-3_01-22-49)

Der Auftraggeber schrieb einen Dienstleistungsauftrag über Gebäudereinigungen in mehreren Liegenschaften im Wege eines offenen Verfahrens aus. Die Vergabeunterlagen sahen als ein Zuschlagskriterium die Qualifikation einiger für die Dienstleistung eingesetzter Mitarbeiter (technischer Betriebsleiter, Objektleiter und Vorarbeiter) vor. Im Angebot waren Angaben über die Qualifikation des vorgesehenen Mitarbeiters oder im Fall, dass der Mitarbeiter noch nicht feststeht, Angaben über die Mindestqualifikation für diese Position zu machen. Auch bei einem Personalwechsel musste die entsprechende Qualifikation bezüglich bestimmter Positionen vorhanden sein und nachgewiesen werden. Ein nicht berücksichtigter Bieter rügte die angewandten Bewertungskriterien im Hinblick auf die Anforderungen an die persönliche Qualifikation als unklar und nicht hinreichend bestimmt. Nachdem der Rüge nicht abgeholfen wurde, stellte der Bieter einen Nachprüfungsantrag.

Die VK Südbayern gab dem Bieter Recht, untersagte dem Auftraggeber den Zuschlag zu erteilen und verpflichtete ihn, das Vergabeverfahren in den Zustand vor Angebotsaufforderung zurückzusetzen. Die Vergabekammer hielt das beanstandete Zuschlagskriterium 'Qualifikation' für unzulässig, da es nicht den gemäß § 127 Abs. 3 S. 2 GWB erforderlichen Auftragsbezug aufweise. Maßgeblich für die Beurteilung des Auftragsbezug sei der 


 
 







Auftragsgegenstand, d. h. die Leistung, zu der sich der Bieter verpflichtet. An den Auftragsbezug würden erhöhte Anforderungen gestellt, wenn es sich um ein Zuschlagskriterium im Sinne des § 58 Abs. 2 S. 2 VgV handelt, wie es bei der Qualifikation des mit der Ausführung des Auftrags eingesetzten Personals der Fall ist. Es sei vertraglich sicherzustellen, dass die eingesetzten Mitarbeiter die entsprechenden Qualitätsanforderungen erfüllen, unabhängig davon, ob es sich um das ursprünglich vorgesehene oder um Ersatzpersonal handle. Für Ersatzpersonal sei dies beispielsweise mit Zustimmungsvorbehalten und entsprechender Prüfung des Qualitätsniveaus zu erreichen. Wird dagegen – wie im streitgegenständlichen Fall – vertraglich nicht abgesichert, dass die qualitativen Aspekte, die im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung bewertet wurden, bei der späteren Auftragsausführung vollumfänglich zum Tragen kommen, fehle der erforderliche Auftragsbezug.

Die VK Südbayern macht in ihrer Entscheidung deutlich, dass bereits die Möglichkeit der Ausführung des Auftrags durch nicht entsprechend qualifiziertes Personal den Auftragsbezug entfallen lassen kann. Wenn die Qualifikation des Personals als Zuschlagskriterium festgelegt werden soll, ist eine vollständige vertragliche Absicherung zu empfehlen.
 
Dr. Volkmar Wagner
CMS Hasche Sigle, Stuttgart

Dezember 2023

Angebot entspricht nicht den Vorgaben des Auftraggebers – zwingender Ausschluss

(BGH, Urteil vom 16.05.2023 – XIII ZR 14/21)

In einem Oberschwellenvergabeverfahren gab der öffentliche Auftraggeber neben der elektronischen Übermittlung der Angebote vor, dass Teile des Angebots als GAEB-Datei einzureichen sind, und hat den Bietern dafür eine Lizenz der entsprechenden Software zur Verfügung gestellt. Der Bieter, der das günstigste Angebot abgegeben hat, wurde vom Auftraggeber ausgeschlossen, weil er die betreffenden Teile des Angebots nicht als GAEB-Datei, sondern als PDF-Datei übermittelt hatte. Er klagte daraufhin auf Ersatz seines entgangenen Gewinns.

Der Bundesgerichtshof bestätigt die Rechtmäßigkeit des Angebotsausschlusses. Das Recht des Auftraggebers, die Form der Angebote vorzugeben, umfasst auch die Bestimmung der Software und des Dateiformats, in dem die Angebote einzureichen sind.
 





Die Vorschriften zur elektronischen Übermittlung (vgl. § 9 Abs. 1 VgV) sprechen auch von 'Programmen'; durch die Vorgabe solcher Programme wird die Form der Angebote bestimmt. Ein nicht entsprechend dieser Formvorgabe eingereichtes Angebot ist auszuschließen (im vorliegenden Fall nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 13 Abs. 1 Nr. 1 VOB/A 2016).

Der Entscheidung ist zuzustimmen, da Auftraggeber bei Formvorgaben trotz der grundsätzlich bieterfreundlichen Entscheidung des BGH vom 18.06.2019 (X ZR 86/17) kein Auge zudrücken können. Wird ein Angebot nicht entsprechend der vom Auftraggeber vorgegebenen Form eingereicht, so ist es nach wie vor, ohne Wenn und Aber auszuschließen.
 
Dr. Volkmar Wagner
CMS Hasche Sigle, Stuttgart
 

November 2023

Dringlichkeit trotz verspäteter Einleitung des Vergabeverfahrens durch den öffentlichen Auftraggeber?

(OLG Düsseldorf, Beschluss vom 15.02.2023 – Verg 9/22)

Öffentlicher Auftraggeber ist eine Stadt, die Schulträgerin einer Förderschule ist. Die Schüler der Förderschule sind aufgrund ihrer Einschränkungen für den Schulbesuch auf die Beförderung mit speziellen Schulbussen angewiesen, die neben dem Fahr- auch über Begleitpersonal verfügen müssen. Der bestehende Vertrag endete regulär mit Ablauf des 31.01.2022. Am 20.09.2021 – also etwa vier Monate vor Auslaufen des Vertrags – schrieb die Stadt eine neue Rahmenvereinbarung aus. Mit Schreiben vom 12.11.2021 informierte die Stadt die Bieter nach § 134 GWB über ihre Zuschlagsabsicht. Ein Bieter beantragte dagegen am 22.11.2021 Nachprüfung. Die Stadt leitete daraufhin eine Interimsvergabe für den Zeitraum vom 01.02.2022 bis zum 31.07.2022 als Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb ein. Zur Begründung führte sie aus, dass ein in einem regulären Vergabeverfahren ausgewähltes Unternehmen die Schülerbeförderung nicht rechtzeitig aufnehmen könnte. Auch in der Interimsvergabe beantragte der Bieter Nachprüfung.

Die Vergabekammer wies den Nachprüfungsantrag ab. Sie begründete dies damit, dass besondere Dringlichkeit vorliege, weil die Erteilung des ausgeschriebenen Auftrags wegen des laufenden Nachprüfungsverfahrens nicht möglich sei. Hiergegen legte der Bieter sofortige Beschwerde zum OLG Düsseldorf ein. Nach Auslaufen des Interimsauftrags am 31.07.2022 beantragte der Bieter festzustellen, dass er durch die Interimsvergabe in seinen Rechten verletzt worden sei.

Das OLG Düsseldorf entschied (zunächst) nicht in der Sache, sondern legte dem Europäischen Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vor:

'Ist Art. 32 Abs. 2 c) der Vergaberichtlinie mit Rücksicht auf Art. 14 AEUV einschränkend dahingehend auszulegen, dass die Vergabe eines der Daseinsvorsorge dienenden öffentlichen Auftrags bei äußerster Dringlichkeit auch dann im Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung erfolgen kann, wenn das Ereignis für den öffentlichen Auftraggeber voraussehbar und die angeführten Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit ihm zuzuschreiben sind?'


 







Nach Überzeugung des OLG Düsseldorf lagen dringliche und zwingende Gründe vor. Allerdings fehlte es am unvorhersehbaren Ereignis und am Kausalzusammenhang zwischen unvorhersehbarem Ereignis und den sich daraus ergebenden Dringlichkeitsgründen. Zur Begründung führte es aus, dass die Stadt das Vergabeverfahren zu spät eingeleitet habe. Sie hätte bei Einleitung des Vergabeverfahrens mit möglichen Verzögerungen durch Nachprüfungsverfahren rechnen und diese bei ihrer Zeitplanung berücksichtigen müssen. Infolgedessen war die Bekanntmachung nur etwa vier Monate vor dem Auslaufen des Vertrags zu spät.

Das OLG Düsseldorf weist darauf hin, dass mehrere deutsche Gerichte in derartigen Fällen eine Interimsvergabe gleichwohl für zulässig gehalten haben, weil der Aspekt der Erbringung der für die Allgemeinheit unverzichtbaren Leistungen wichtiger sei als der Aspekt der Zurechenbarkeit der Dringlichkeit beim öffentlichen Auftraggeber (OLG Frankfurt, 30.01.2014 – 11 Verg 15/13; OLG Celle, 24.09.2014 – 13 Verg 9/14). Das OLG Düsseldorf teilt diese Auffassung zwar, sieht sich jedoch durch Art. 32 Abs. 2 c) der Vergaberichtlinie an einer entsprechenden einschränkenden Auslegung des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV gehindert. Eine einschränkende Auslegung wäre nach Auffassung des OLG Düsseldorf allerdings unter Berücksichtigung von Art. 14 AEUV denkbar, der die Gewährleistung von Diensten von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse garantiert. Die dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage soll klären, ob eine solche einschränkende Auslegung möglich ist.

Dr. Volkmar Wagner
CMS Hasche Sigle, Stuttgart

Oktober 2023

Abgeänderter "Zuschlag":
Kein Zuschlag, sondern neues Angebot

(OLG Celle, Urteil vom 29.12.2022 – 13 U 3/22)

Der Kläger und frühere öffentliche Auftraggeber verlangt vom Beklagten und früheren Bieter Schadensersatz wegen Nichterfüllung eines Vertrages. Die Frage, ob zwischen dem öffentlichen Auftraggeber und Bieter überhaupt ein Vertrag zustande gekommen ist, ist streitig. In seinem "Zuschlagsschreiben" erklärte der öffentliche Auftraggeber, dass dem Bieter der Zuschlag erteilt wurde und dieser kurzfristig mit der Ausführung der Leistung beginnen sollte. Weiter hieß es in dem "Zuschlagsschreiben":
"Sie werden gebeten, umliegend die anliegenden Schriftstücke unterzeichnet zurückzusenden:
  • Eine Ausfertigung des Vertrags mitsamt Anlagen
  • Mitteilung über die Projektleitung"
Der "bezuschlagte" Bieter erhielt den Vertragsentwurf erstmals mit dem Zuschlagsschreiben; er war nicht Bestandteil der Vergabeunterlagen gewesen. Der Bieter kam der Bitte um Vertragsunterzeichnung nicht nach. Der öffentliche Auftraggeber erklärte daraufhin, eine Unterzeichnung des Vertrags sei nicht notwendig und der Zuschlag sei durch das Angebot und das "Zuschlagsschreiben" zustande gekommen. Der Bieter widersprach dem noch am selben Tag. In der Folge stritten die Parteien über das Zustandekommen des Vertrags und die Schadensersatzpflichtigkeit des Bieters. Das Landgericht verurteilte den Bieter zur Zahlung von Schadensersatz. Es vertrat die Auffassung, dass der Kläger das Angebot des Bieters durch das "Zuschlagsschreiben" unverändert angenommen habe.

 





Das OLG Celle hebt das Urteil des Landgerichts auf und gibt dem Bieter recht. Das "Zuschlagsschreiben" des Klägers und früheren öffentlichen Auftraggebers ist nicht als vorbehaltlose Annahme, sondern als neues Angebot anzusehen. Das Angebot des Bieters wurde mit dem Zuschlagsschreiben nicht unverändert angenommen. Der Auftraggeber machte mit dem Inhalt des übersandten und von den Vergabeunterlagen abweichenden Vertragsentwurfs vielmehr ein neues Angebot. Er brachte auch unmissverständlich zum Ausdruck, dass der Vertrag mit dem Inhalt des neuen Vertragsentwurfs zustande kommen soll. Mit dem neuen Angebot des Auftraggebers galt das Angebot des Bieters gem. § 150 Abs. 2 BGB, § 18 EU Abs. 2 VOB/A als abgelehnt und war damit erloschen. Daher konnte es durch die nachfolgende Erklärung des Auftraggebers nicht mehr angenommen werden.

Öffentliche Auftraggeber sollten sich vor "Zuschlagsschreiben" mit von den Vergabeunterlagen abweichenden Bedingungen in Acht nehmen. Sie begeben sich damit in die Hand des Bieters, der die Möglichkeit hat, ein solches Angebot ohne Wenn und Aber abzulehnen. Ein Anspruch auf Schadensersatz des öffentlichen Auftraggebers besteht in diesem Fall nicht, da aufgrund seines Verhaltens durch das "Zuschlagsschreiben" kein wirksamer Vertrag zustande gekommen ist.

Dr. Volkmar Wagner
CMS Hasche Sigle, Stuttgart
 

September 2023

Der öffentliche Auftraggeber muss in den Vergabeunterlagen klarstellen, dass eine Rahmenvereinbarung automatisch endet, wenn die dafür anzugebende Höchstmenge bzw. der dafür anzugebene Höchstwert erreicht ist

(OLG Koblenz, Beschluss vom 14.12.2022 – Verg 3/22)

In den Vergabeunterlagen zur Vergabe einer Rahmenvereinbarung gibt der öffentliche Auftraggeber eine Angabe des maximalen Auftragsvolumens an. Die abzuschließende Rahmenvereinbarung sieht außerdem folgende Regelung vor:
'Die Rahmenvereinbarung kann vom Auftraggeber jederzeit vor Ablauf der Vertragslaufzeit mit einer Frist von 5 (fünf) Tagen in Schriftform gekündigt werden, wenn das genehmigte Budget des Auftraggebers in Höhe von (…) EUR netto aufgrund bereits erteilter Aufträge ausgeschöpft ist.'

Hiergegen wendet sich ein Bieter und macht geltend, dass in den Vergabeunterlagen keine Höchstabnahmemenge angegeben sei, ab deren Erreichung die Rahmenvereinbarung automatisch ende.

Die VK Rheinland-Pfalz weist den Nachprüfungsantrag des Bieters ab. Seine daraufhin eingelegte sofortige Beschwerde zum OLG Koblenz hat allerdings Erfolg. Das OLG Koblenz ist der Auffassung, dass die Rahmenvereinbarung nach der vom öffentlichen Auftraggeber vorgesehenen vertraglichen Regelung nicht automatisch bei Erreichen einer Höchstmenge oder eines Höchstwerts ende, sondern lediglich ein Kündigungsrecht des Auftraggebers bestehe, wenn das genehmigte Budget aufgrund bereits erteilter Aufträge ausgeschöpft sei. Dies sei nicht dasselbe wie eine automatische Unwirksamkeit. 
 










Das OLG Koblenz stützt sich dabei auf die Rechtsprechung des EuGH (17.06.2021 – C 23/20), wonach eine Rahmenvereinbarung unmittelbar mit Erreichen der Höchstmenge oder des Höchstwerts unwirksam werde. Es legt die vom OLG Koblenz geschaffenen Grundsätze sehr eng und rigide aus. Dem öffentlichen Auftraggeber soll damit verwehrt werden, die Rahmenvereinbarung doch über die Höchstmenge oder den Höchstwert hinaus zu nutzen.

Öffentlichen Auftraggebern ist aufgrund der Rechtsprechung des EuGH und nunmehr auch des OLG Koblenz zwingend anzuraten, bei der Vergabe einer Rahmenvereinbarung eine Höchstmenge oder einen Höchstwert anzugeben und klarzustellen, dass die Wirksamkeit der Rahmenvereinbarung mit Erreichen dieser Höchstmenge oder dieses Höchstwerts automatisch ende. Aus Gründen der Rechtssicherheit sollte vollständig auf Gestaltungsrechte des Auftraggebers verzichtet und stattdessen eine automatisch eintretende Unwirksamkeit der Rahmenvereinbarung vorgesehen werden.

Dr. Volkmar Wagner
CMS Hasche Sigle, Stuttgart
 

August 2023

Auch Sektorenhilfstätigkeiten sind Sektorentätigkeiten

(OLG Düsseldorf, Beschluss vom 17.08.2022 – Verg 50/21)

Ein Wasser- und Energieversorgungsunternehmen – also ein Sektorenauftraggeber nach § 100 GWB – fordert mehrere Unternehmen auf, ein Angebot für einen einjährigen Rahmenvertrag über die Erbringung von Postdienstleistungen abzugeben. Der Auftragswert liegt über dem EU-Schwellenwert für Liefer- und Dienstleistungen, nicht aber über dem EU-Schwellenwert für Liefer- und Dienstleistungen im Sektorenbereich. Der Auftraggeber führte daher kein europaweites Vergabeverfahren durch. Ein nicht erfolgreiches Unternehmen beanstandet diese Vorgehensweise und vertritt die Auffassung, dass Postdienstleistungen keine Sektorentätigkeiten darstellen und der Auftraggeber daher verpflichtet gewesen wäre, ein europaweites Vergabeverfahren durchzuführen. Diese Verpflichtung ist zugleich Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Vergabe-Nachprüfungsverfahrens.

Nachdem zunächst die VK Westfalen dem antragstellenden Unternehmen recht gab und den Begriff der Sektorentätigkeit sehr eng auslegte, weist das OLG Düsseldorf den Nachprüfungsantrag als unzulässig zurück. Begründet wird dies damit, dass der für Sektorentätigkeiten maßgebliche Schwellenwert nicht erreicht wird und die Vergabe-Nachprüfungsinstanzen infolgedessen nicht zuständig sind.
 





Nach Auffassung des OLG Düsseldorf ist es ausreichend, dass zwischen der zu beurteilenden Beschaffung und der Sektorentätigkeit ein Zusammenhang besteht. Die Tätigkeit muss der Sektorentätigkeit tatsächlich dienen und nicht lediglich einen positiven Beitrag dazu leisten oder die Rentabilität fördern. Daher unterfallen auch mittelbar der Sektorentätigkeit dienenden Dienstleistungen als Sektorenhilfstätigkeiten dem Sektorenvergaberecht. Sektorenhilfstätigkeiten liegen immer dann vor, wenn sie es ermöglichen, die Sektorentätigkeit angemessen zu bewerkstelligen. Das ist z.B. bei einer angemessenen Möblierung oder einer angemessenen IT-Ausstattung eines Verwaltungsgebäudes der Fall. Da das betroffene Wasser- und Energieversorgungsunternehmen auf postalische Kommunikation mit Lieferanten und Kunden angewiesen ist, handelt es sich bei den Postdienstleistungen um Sektorenhilfstätigkeiten.

Dem Beschluss ist absolut zuzustimmen. Für die Durchführung von Sektorentätigkeiten im Wasser- und Energieversorgungsbereich braucht man nicht nur Pumpen und Strommasten, sondern auch alle anderen Leistungen, die erforderlich sind, um eine solches Unternehmen zu betreiben. Eine weite Auslegung des Begriffs der Sektorentätigkeit ist daher geboten.

Dr. Volkmar Wagner
CMS Hasche Sigle, Stuttgart
 

Juli 2023

Zur Übernahme von Inhouse-Aufträgen bei Unternehmensumstrukturierungen

(EuGH, Urteil v. 12.05.2022 – C-719/20 [Comune di Lerici/Provinvia di la Spezia])

Die italienische Gemeinde Lerici hatte die kommunale Abfallbewirtschaftung im Jahr 2005 für den Zeitraum bis Ende 2028 im Wege der Inhouse-Vergabe an die kommunal beherrschte Aktiengesellschaft ACAM vergeben, an der neben der Gemeinde Lerici noch weitere Gemeinden beteiligt sind. Im Jahr 2017 erfolgte eine Umstrukturierung der ACAM, in deren Rahmen die beteiligten Gemeinden ihre Anteile zu 100 % auf die börsennotierte IREN SpA übertrugen. Das italienische Recht sieht vor, dass der Wirtschaftsteilnehmer, der infolge gesellschaftsrechtlicher Vorgänge an die Stelle des ursprünglichen Konzessionsnehmers tritt, die Dienstleistungen bis zum vorgesehenen Ende der Laufzeit erbringt. Im Einklang mit dieser Regelung genehmigte die nunmehr zuständige Provinz die Fortsetzung der Abfallbewirtschaftung in der Gemeinde Lerici durch die IREN SpA. Hiergegen wandte sich die Gemeinde Lerici mit einer Klage, da sie die Voraussetzungen der Inhouse-Vergabe nicht mehr als erfüllt ansah.

Der EuGH gab der Gemeinde recht und erklärte die italienische Regelung für unvereinbar mit der Vergaberichtlinie (Richtlinie 2014/24/EU). Ob im Fall des Erwerbs einer Inhouse-Gesellschaft durch einen anderen Wirtschaftsteilnehmer eine Ausschreibung laufender Aufträge erforderlich wird, sei anhand der Grundsätze der zulässigen Auftragsänderung während der Vertragslaufzeit gemäß Art. 72 Abs. 1 d)ii) Vergaberichtlinie (im deutschen Recht umgesetzt in§ 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 b) GWB) zu bestimmen. Aus dem Wortlaut der Vorschrift ergebe sich, dass ihr Anwendungsbereich auf Fälle beschränkt ist, in denen der Rechtsnachfolger des Auftragnehmers die Ausführung des öffentlichen Auftrags entsprechend den Anforderungen der Vergaberichtlinie fortsetzt; hierzu gehöre die Beachtung der Grundsätze der Nichtdiskriminierung, der Gleichheit und des wirksamen Wettbewerbs. Diese Auslegung werde auch von Art. 72 Abs. 4 Vergaberichtlinie (im deutschen Recht umgesetzt in § 132 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 GWB) gestützt, der eine wesentliche 





Auftragsänderung u. a. an das Vorliegen wettbewerblicher Relevanz knüpft, sowie durch das gesetzliche Ziel, das öffentliche Auftragswesen einem möglichst umfassenden Wettbewerb zu öffnen. Ein Wechsel des Auftragsnehmers könne daher nicht durch die Ausnahmetatbestände gemäß Art. 72 Vergaberichtlinie gerechtfertigt werden, weil der öffentliche Auftrag, um den es geht, ursprünglich ohne Ausschreibung an eine Inhouse-Gesellschaft vergeben wurde.

Die Voraussetzungen für eine Inhouse-Vergabe nach Art. 12 Abs. 3 Vergaberichtlinie (im deutschen Recht umgesetzt in § 108 Abs. 4 GWB) seien ebenfalls nicht erfüllt, weil die Gemeinde am neuen Auftragnehmer IREN nicht beteiligt sei, und dementsprechend weder in den beschlussfassenden Organen der Gesellschaft vertreten noch in der Lage sei, Einfluss auf die strategischen Ziele oder wesentlichen Entscheidungen von IREN auszuüben. Die Fortsetzung des Auftrags durch IREN sei daher nur dann möglich, wenn IREN im Rahmen eines neuen wettbewerblichen Vergabeverfahrens den Zuschlag erhält. Hieran ändere auch der Umstand nichts, dass dem Erwerb der Gesellschaftsanteile an ACAM eine öffentliche Ausschreibung vorausgegangen war, bei der IREN von den an ACAM beteiligten Gemeinden als Erwerber ausgewählt worden war.

Die Entscheidung enthält damit eine wichtige Klarstellung zum Verhältnis von Inhouse-Aufträgen und wesentlichen Auftragsänderungen: Kommt es infolge einer gesellschaftsrechtlichen Umstrukturierung zu einem Austausch des Auftragnehmers, können bestehende Inhouse-Aufträge nach dieser Entscheidung ungeachtet des Vorliegens der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 b) GWB nur dann fortgeführt werden, wenn die Voraussetzungen des § 108 GWB auch hinsichtlich des Rechtsnachfolgers des Auftragnehmers vorliegen.

Annchristin Knoth
CMS Hasche Sigle, Stuttgart
 

Juni 2023

Zur Herabsetzung von Eignungsanforderungen im laufenden Vergabeverfahren

(VK Bund, Beschluss vom 25.03.2022 – VK 2-10/22)

Die VK Bund hatte sich mit der europaweiten Vergabe eines öffentlichen Bauauftrags zu befassen. In der Auftragsbekanntmachung legte der Auftraggeber Eignungsanforderungen bezüglich der Gerätschaften fest, die Bieter vorhalten müssen. Demnach mussten die Bieter zum Zeitpunkt der Angebotsabgabe über zwei betriebsbereite Schiffe zur Ausführung von Nassbaggerarbeiten verfügen. Mit dem Angebot waren zum Nachweis der Eignung verschiedene Unterlagen bezüglich der Geräte vorzulegen, u.a. eine Gerätebeschreibung mit Bildern sowie Schiffsdokumente. Zwei Bieter gaben fristgemäß ein Angebot ab. Der preisgünstigste Bieter benannte als Zweitgerät ein Schiff, das zum Zeitpunkt der Angebotsabgabe die vorgegebenen Anforderungen noch nicht erfüllte, sondern noch umgebaut werden musste. Der Auftraggeber forderte den Bieter daraufhin unter Fristsetzung auf, fehlende Unterlagen zu dem Zweitgerät in Form von Bildaufnahmen und Schiffsdokumenten vorzulegen. Dem kam der Bieter nicht nach. Der Auftraggeber führte daraufhin einen Ortstermin bei dem Bieter durch, bei dem er das im Umbau befindliche zweite Schiff in Augenschein nahm. Dabei kam er zu der Überzeugung, dass das Zweitgerät zu Auftragsbeginn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zur Verfügung stehen wird. Er beabsichtigte daher, dem Bieter den Zuschlag zu erteilen. Hiergegen wandte sich der konkurrierende Bieter mit einem Nachprüfungsantrag.

Nach Auffassung der VK Bund liegt ein Vergabefehler vor, weil der Auftraggeber die bekannt gemachten Eignungsanforderungen unter Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot nach § 97 Abs. 2 GWB allein zugunsten der erfolgreichen Bieterin herabgesetzt habe. Indem der Auftraggeber hinter den ursprünglichen Anforderungen zurückbleibende Nachweise akzeptiert hat, habe er faktisch eine Herabsetzung der Voraussetzungen für die Eignungsprüfung vorgenommen. Eine Abschwächung bekannt gemachter Eignungsanforderungen sei grundsätzlich auch im laufenden Vergabeverfahren zulässig.






Der Sache nach liege hierin eine Teilaufhebung, die rechtlich nach den Grundsätzen zur Aufhebung (§ 17 VOB/A EU) zu bewerten sei. Die Wirksamkeit der Teilaufhebung setze voraus, dass der Auftraggeber einen sachlichen Grund für die Zurückversetzung hat und andere Bieter nicht diskriminiert. Vorliegend sei es dem Auftraggeber um Herstellung eines 'Mehr an Wettbewerb' gegangen, worin ein sachlicher Grund liege. Eine Teilaufhebung müsse in verfahrenstechnischer Hinsicht allerdings gleichheitskonform durchgeführt werden. Das bedeute, dass alle am Vergabewettbewerb teilnehmenden Bieter unter angemessener Verlängerung der Angebotsfrist hätten informiert werden müssen, dass in Bezug auf das zweite Gerät noch keine abschließenden Nachweise, Bildaufnahmen, etc. verlangt werden. Der Auftraggeber habe es zudem versäumt, die Änderung gemäß § 122 Abs. 4 Satz 2 GWB europaweit bekannt zu machen.

Die Entscheidung zeigt, dass bei einer Änderung der Eignungskriterien während des laufenden Vergabeverfahrens Vorsicht geboten ist. Dies gilt sowohl in wettbewerblicher Hinsicht, da durch die Änderung kein Bieter diskriminiert werden darf, als auch hinsichtlich der Bekanntmachung. Bei einem Vergabeverfahren im Oberschwellenbereich ist insoweit eine Änderungsbekanntmachung erforderlich. Dass die VK Bund in einer Abschwächung von Eignungskriterien eine Teilaufhebung sieht, ist insoweit allerdings überraschend, da der Beschaffungsgegenstand hierdurch nicht geändert wird. Es bleibt abzuwarten, ob das in der Beschwerdeinstanz zuständige OLG Düsseldorf (Az. Verg 17/22) dies ebenso beurteilen wird.

Dr. Sven Brockhoff, Annchristin Knoth
CMS Hasche Sigle, Stuttgart
 

Mai 2023

Kein Ausschluss wegen Irreführung, sofern falsche oder unvollständige Angaben durch Unklarheiten in den Vergabeunterlagen bedingt sind

(BayObLG, Beschluss vom 29.07.2022 – Verg 16/21)

Der Auftraggeber schrieb Planungsleistungen für eine neue U-Bahnlinie im Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb nach der SektVO aus. Zum Nachweis der Eignung verlangte er die Vorlage mindestens eines eigenständig erbrachten vergleichbaren Referenzprojekts. Eine aus drei Büros bestehende Bewerbergemeinschaft benannte als Referenz für eines der Büros einen in anderweitiger Ingenieurgemeinschaft durchgeführten Bau einer U-Bahnlinie. Sie gab an, dass die Gesamtleistung in Ingenieurgemeinschaft erbracht worden sei, konkretisierte ihren Eigenleistungsanteil aber nicht näher. Eine Überprüfung des Auftraggebers ergab, dass die Planungsleistungen für den unterirdischen Bauabschnitt in wesentlichen Teilen ein Partnerbüro und nicht das sich bewerbende Büro durchgeführt hatte. Der Auftraggeber schloss die Bewerbergemeinschaft deshalb wegen fahrlässiger Irreführung (§§ 142, 124 Abs. 1 Nr. 9 lit. c GWB) und fehlender Eignung aus. Aus den Vergabeunterlagen gehe klar hervor, dass eine Referenz gefordert gewesen sei, die eigene Planungsleistungen für ein unterirdisches Bauwerk umfasse.

Das BayObLG erklärte den Ausschluss der Bewerbergemeinschaft für rechtswidrig. Der Tatbestand des § 124 Abs. 1 Nr. 9 lit. c GWB sei nicht erfüllt. Die Angaben der Bewerbergemeinschaft zum Referenzprojekt seien mangels einer näheren Beschreibung der Aufgabenteilung und der eigenen Leistungen zwar unvollständig, aber nicht fahrlässig irreführend. Nicht jede Widersprüchlichkeit oder Unklarheit eines Angebots oder Teilnahmeantrags könne bereits für sich genommen als (versuchte) Irreführung des Auftraggebers aufgefasst werden.









Es sei vielmehr zu berücksichtigen, inwieweit die Vorgaben in den Vergabeunterlagen oder die Fragen des Auftraggebers, auf die sich die Erklärung des Unternehmens bezieht, hinreichend klar und eindeutig seien. Angaben zu missverständlichen, mehrdeutigen oder unklaren Vorgaben seien nicht ohne weiteres objektiv falsch bzw. irreführend. Vorliegend seien die unvollständigen Angaben auf ein abweichendes Verständnis der Vergabeunterlagen zurückzuführen, denen nicht klar und eindeutig entnommen werden könne, was unter einer 'vergleichbaren Referenz' zu verstehen ist, die 'eigenständig' erbracht worden sein muss. Mangels einer klaren Definition der vom Auftraggeber geforderten 'vergleichbaren' Referenz habe die Bewerbergemeinschaft auch nicht wegen fehlender Eignung vom Verfahren ausgeschlossen werden dürfen.

Das BayObLG legt den Ausschlusstatbestand des § 124 Abs. 1 Nr. 9 lit. c GWB angesichts des ultima-ratio-Charakters des Ausschlusses bieterfreundlich einschränkend aus. Auftraggeber sollten vor einer Ausschlussentscheidung stets hinterfragen, ob die als irreführend wahrgenommenen Angaben möglicherweise auf Unklarheiten in den Vergabeunterlagen beruhen. Dem Auftraggeber wichtige Referenzanforderungen und Eignungskriterien sind in den Vergabeunterlagen so klar und unzweideutig wie möglich zu benennen, da Unklarheiten im Zweifel zu seinen Lasten gehen.

Annchristin Knoth
CMS Hasche Sigle, Stuttgart
 

April 2023

Die VOB/B muss 'als Ganzes' vereinbart werden


(VK Südbayern, Beschluss vom 14.02.2022 – 3194.Z3-3_01-21-44)

In einem Bauvergabeverfahren schreibt der Auftraggeber einen Bauvertrag aus, der weitgehend von der VOB/B abweicht und sich stattdessen am Bauvertragsrecht des BGB orientiert. Ein Bieter beruft sich auf § 8a EU Abs. 1 VOB/A und rügt die Abweichungen von der VOB/B als vergaberechtswidrig. Nach Zurückweisung seiner Rüge beantragt er Nachprüfung.

Die Vergabekammer Südbayern gibt dem Bieter recht: Nach § 8a EU VOB/A ist in den Vergabeunterlagen vorzuschreiben, dass die Allgemeinen Vertragsbedingungen für die Ausführung von Bauleistungen (VOB/B) und die Allgemeinen Technischen Vertragsbedingungen für Bauleistungen (VOB/C) Bestandteile des Vertrags werden. Damit verlange die VOB/A die Verwendung der VOB/B 'als Ganzes'. Die Beifügung des von den Bestimmungen des VOB/B abweichenden Bauvertrags sei infolgedessen vergaberechtswidrig.


 






Zur Begründung weist die Vergabekammer Südbayern darauf hin, dass es Zweck des § 8a Abs. 1 EU VOB/A sei, den Bietern eine Kalkulation ohne zusätzliche vertragliche übertragende Risiken zu ermöglichen. Die Beifügung eines von der VOB/B abweichenden Vertragswerks stelle daher die für die Bieter die Auferlegung eines ungewöhnlichen Wagnisses nach § 7 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A dar. Sie stellt zudem klar, dass sie nicht zu einer Inhaltsprüfung des von der VOB/B abweichenden Vertrags berufen sei. Ihre Aufgabe sei lediglich, die vergaberechtliche Prüfung, die hier einen Verstoß gegen die Verpflichtung zur Vereinbarung der VOB/B 'als Ganzes' ergeben habe.

Dr. Volkmar Wagner
CMS Hasche Sigle, Stuttgart

März 2023

Aufhebung der Ausschreibung wegen massiver Verschiebung der Bauzeit


(OLG Naumburg, Beschluss vom 17.12.2021 – 7 Verg 3/21)

Ein Landkreis schreibt einen Bauauftrag im offenen Verfahren europaweit aus. Kurz vor dem Termin für die Öffnung der Angebote hebt der Auftraggeber das Vergabeverfahren auf. Mit Schreiben vom selben Tag informiert er die Bieter darüber, dass das Vergabeverfahren aufgehoben worden sei, weil eine grundlegende Änderung der Vergabeunterlagen wegen einer Verschiebung der Ausführungsfrist um mindestens sechs Monate erforderlich sei. Hintergrund sind nach Einleitung des Vergabeverfahrens bekannt gewordene Verzögerungen bei der Fertigstellung des Rohbaus, aus denen massive Bauzeitverschiebungen für die Folgegewerke resultieren. Eine Bieterin rügt die Aufhebung als vergaberechtswidrig, da kein Grund für eine Aufhebung der Ausschreibung vorliege. Nachdem ihr Nachprüfungsantrag vor der VK Sachsen-Anhalt ohne Erfolg bleibt, erhebt sie sofortige Beschwerde.

Das OLG Naumburg weist die sofortige Beschwerde zurück. Nach § 17 Abs. 1 Nr. 2 VOB/A EU sei der öffentliche Auftraggeber berechtigt, ein Vergabeverfahren aufzuheben, wenn sich dessen Grundlage wesentlich geändert hat. Die massive Verschiebung der Bauzeit sei vorliegend ausnahmsweise als eine wesentliche Änderung der Grundlagen der Vergabeunterlagen anzusehen. Zwar könnten Änderungen des Leistungsinhalts eine Aufhebung nur dann rechtfertigen, wenn sie ähnlich einer Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) wirken und die Ausführung des Auftrags entweder nicht mehr möglich oder für eine der Parteien mit unzumutbaren Bedingungen verbunden wäre. Bei einer Anpassung der Bauzeit an veränderte Bedingungen und hierdurch unter Umständen veranlasste Preisanpassungen sei das grundsätzlich nicht anzunehmen. Vorliegend gelte aber wegen der besonderen Umstände des Einzelfalles ausnahmsweise etwas anderes. Die Verzögerung von mindestens sechs Monaten sei gravierend und hätte mit Blick auf die durch die Corona-Pandemie verursachten Lieferkettenstörungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche Steigerung der Selbstkosten des Auftragnehmers verursacht. Es sei ungewiss, inwieweit diese erhöhten Selbstkosten auch zu erhöhten Vergütungsansprüchen geführt hätten, da in den






Vergabeunterlagen keine Regelungen zu Preisanpassungen wegen Materialpreiserhöhungen vorgesehen gewesen seien. Es habe deshalb zulasten des potenziellen Auftragnehmers eine erhebliche Verschiebung des vertraglichen Äquivalenzverhältnisses gedroht. Soweit eine Weitergabe der erhöhten Selbstkosten durchsetzbar gewesen wäre, wäre zulasten des Auftraggebers eine erhebliche Erhöhung der Gesamtvergütung für den Auftrag eingetreten, die schon bei isolierter Betrachtung ausnahmsweise eine wesentliche Änderung der Grundlagen der Vergabeunterlagen darstellen könne und vorliegend zudem geeignet gewesen wäre, die Finanzierung des ausgeschriebenen Auftrags zu gefährden. Ferner hätte sich der Auftraggeber mit der Verschiebung des Ausführungszeitraums auf das Frühjahr und den Sommer des Folgejahrs und damit in eine Zeit, die typischerweise durch eine höhere Auslastung geprägt ist, dem Risiko des Wegfalls der Leistungsfähigkeit des beauftragten Bauunternehmens ausgesetzt. Hinzu komme, dass der Auftragnehmer wegen der Dauer der Verschiebung ein Kündigungsrecht nach § 6 Abs. 7 VOB/B gehabt hätte, sodass sich der Auftraggeber durch eine Zuschlagserteilung von vornherein keinen durchsetzbaren Anspruch auf Ausführung der ausgeschriebenen Leistung hätte verschaffen können.

Das OLG Naumburg stützt seine Bewertung auf eine Gesamtschau der verschiedenen Umstände des betreffenden Einzelfalles. Bei einer Übertragung der Entscheidung auf andere Konstellationen ist daher Vorsicht geboten. Ungeachtet dessen unterstreicht die Entscheidung die Bedeutung von Preisgleitklauseln bei der Vergabe von Bauaufträgen. Angesicht der aktuellen Unwägbarkeiten ist öffentlichen Auftraggebern dringend zu raten, Preisgleitklauseln zu verwenden, um Zusatzaufwand und Verzögerungen durch die Wiederholung von Vergabeverfahren zu vermeiden.

Annchristin Knoth
CMS Hasche Sigle, Stuttgart
 

Februar 2023

Zur Wartefrist nach § 134 GWB bei Einbeziehung von Feiertagen, Wochenenden und dienstfreien Tagen der Vergabekammer


(VK Südbayern, Beschluss vom 04.08.2022 – 3194.Z3-3 01-22-1)

Der Auftraggeber schrieb im Wege eines offenen Verfahrens die Beschaffung von Raumluftreinigungsgeräten aus. Mit Vorabinformationsschreiben vom 23.12.2021 teilte er einem der Bieter mit, dass der Zuschlag nicht auf sein Angebot erteilt werde, da es nicht das wirtschaftlichste sei. Es sei beabsichtigt, den Zuschlag frühestens am 03.01.2022 auf das preisgünstigste Angebot zu erteilen. Am 27.12.2021 wurde die betreffende Nachricht vom zentralen E-Mail-Eingang des Bieters an den zuständigen Sachbearbeiter weitergeleitet. Dieser befand sich bis einschließlich 02.01.2022 im Urlaub. Mit Schreiben vom 03.01.2022 rügte der Bieter verschiedene Vergaberechtsverstöße. Der Auftraggeber wies die Rügen zurück und teilte außerdem mit, dass er den Zuschlag am 03.01.2022 erteilt habe. Daraufhin stellte der Bieter am 06.01.2022 einen Nachprüfungsantrag.

Die VK Südbayern verwarf den Nachprüfungsantrag als unzulässig. Der Zuschlag sei nicht nach § 135 Abs. 1 Nr. 1 GWB unwirksam. Der Auftraggeber habe die Wartefrist von 10 Kalendertagen (§ 134 Abs. 1 GWB) formal eingehalten. Auch die faktische Verkürzung des Zeitraums für die Überprüfung der Entscheidung und die Entschließung über einen Nachprüfungsantrag dadurch, dass die Wartefrist auf die Weihnachtstage und den Jahreswechsel fiel, begründe vorliegend keinen Verstoß gegen § 134 GWB. Zwar werde die 10-tägige Wartefrist nicht wirksam in Lauf gesetzt, wenn der Auftraggeber die Inanspruchnahme von effektivem Rechtsschutz der Bieter dadurch unzumutbar erschwert, dass er die Frist so über Feiertage und Wochenenden legt, dass einem Bieter für die Entscheidung über einen Nachprüfungsantrag praktisch nur vier bis fünf Arbeitstage verbleiben (Anschluss an OLG Düsseldorf, Beschluss vom 05.11.2014 – VII Verg 20/14; Beschluss vom 05.10.2016 – VII-Verg 24/16). Entsprechendes gelte, sofern 








eine faktische Fristverkürzung dadurch eintritt, dass die beiden einzigen Werktage, an denen die Vergabekammer dienstfrei hat (24.12., 31.12.), in die Wartefrist einbezogen sind. Ob eine unzumutbare Erschwerung des effektiven Rechtsschutzes der Bieter vorliege, sei aber stets an den Umständen des Einzelfalls zu messen. Im vorliegenden Fall beruhe die verspätete Stellung des Nachprüfungsantrags nicht auf der faktischen Fristverkürzung durch den Auftrageber, sondern auf einem internen Organisationsfehler des Bieters. Als Teilnehmer an dem Vergabeverfahren habe er mit einer Entscheidung gegen Jahresende rechnen und für eine Vertretung des zuständigen Sachbearbeiters sorgen müssen.

Mit der vorliegenden Entscheidung schließt sich die VK Südbayern der Rechtsprechung des OLG Düsseldorf an und erweitert deren Anwendungsbereich auf dienstfreie Arbeitstage der Vergabekammer. Auftraggebern ist zu raten, Bietern in derartigen Konstellationen im Zweifel einen verlängerten Prüfungszeitraum einzuräumen. Methodisch erscheint diese Rechtsprechungslinie angesichts des klaren Wortlauts des § 134 Abs. 2 GWB, der auf Kalendertage statt auf Werk- oder Arbeitstage abstellt, zweifelhaft. Es ist daher zu begrüßen, dass die VK die Anforderungen, unter denen sich Bieter auf eine unzumutbare Erschwerung effektiven Rechtsschutzes berufen können, restriktiv handhabt. Bieter müssen angesichts dessen organisatorische Vorkehrungen treffen, um auch über die Feiertage innerhalb weniger Werktage fristgemäß einen Nachprüfungsantrag stellen zu können.

Annchristin Knoth
CMS Hasche Sigle, Stuttgart
 

Januar 2023

Kriterium der geschlossenen Lieferkette vergaberechtswidrig

(OLG Düsseldorf, Beschluss vom 01.12.2021 – Verg 54/20)

Im Fall des OLG Düsseldorf ging es um die Vergabe von Arzneimittelrabattverträgen nach § 130a Abs. 8 SGB V in einem europaweiten offenen Vergabeverfahren. Der Auftraggeber hatte darin bekanntgemacht, dass der Zuschlag nicht nur anhand des niedrigsten Preises, sondern auch anhand qualitativer, umweltbezogener und sozialer Aspekte in Gestalt von Wirtschaftlichkeitsboni erteilt werden sollte. Zu diesen Aspekten gehörte u.a. auch der Nachweis einer geschlossenen Lieferkette in der EU, in den Unterzeichnerstaaten des Übereinkommens über das öffentliche Beschaffungswesen (Government Procurement Agreement – GPA) oder in der Freihandelszone der EU. Gegen dieses Zuschlagskriterium wandte sich ein in Indien produzierender Bieter mit einer Rüge und einem Nachprüfungsantrag.

Das OLG Düsseldorf hielt das Kriterium für vergaberechtswidrig. Es verstoße insbesondere gen den Gleichbehandlungsgrundsatz gem. § 97 Abs. 2 GWB, der eine Ungleichbehandlung von Wirtschaftsteilnehmern nur ausnahmsweise zulasse, wenn dies aufgrund eines Gesetzes ausdrücklich geboten oder gestattet sei. Diese Voraussetzungen lägen hier aber nicht vor. Es gebe (derzeit) keine Vorschrift, die eine solche Ungleichbehandlung gestattet. Das Gericht sah in dem Kriterium auch kein zulässiges Mittel zur Erreichung europäischer Umwelt- und Sozialstand. Zwar könnten bei der Ermittlung des wirtschaftlichsten Angebots auch qualitative, umweltbezogene oder soziale Aspekte berücksichtigt werden. Das Kriterium sei zur Erreichung vergleichbarer Umwelt- und Sozialstandards allerdings ungeeignet, da die durch das Lieferkettenkriterium privilegierte Staatengruppe gerade in Bezug auf Umwelt- und Sozialstandards derart heterogen sei, dass das Lieferkettenkriterium bezüglich dieser Standards kein zulässiges Zuschlagskriterium darstellt.



 





Das Lieferkettenkriterium sorge ferner nicht dafür, dass eine höhere Versicherungssicherheit herrscht. Diese würde voraussetzen, dass in der EU, den GPA-Unterzeichnerstaaten und der Freihandelszone der EU die Versorgung mit den ausgeschriebenen Arzneimitteln in höherem Maße gewährleistet ist als bei einer Herstellung in typischen Drittstaaten, wie z. B. Indien oder China. Ein solcher verkehrstechnischer Vorteil liege jedoch nicht vor. Nach Ansicht des Gerichts wäre es außerdem möglich gewesen, den Bietern eine versorgungsortsnahe Lagerhaltung vorzugeben oder eine solche durch den Wirtschaftlichkeitsbonus zu privilegieren. Dese Möglichkeiten wären gegenüber dem Lieferkettenkriterium als mildere Mittel vorzuziehen gewesen.

Da das OLG Düsseldorf eine Vielzahl von Gründen nennt, die gegen die Zulässigkeit des Lieferkettenkriteriums sprechen, ist öffentlichen Auftraggebern zur Vorsicht zu raten, wenn sie vergleichbare Kriterien aufstellen wollen. Teilnahmeanträge und Angebote von Unternehmen aus Drittstaaten sollten nicht bereits aufgrund der Herkunft des Bieters oder der Ware schlechter behandelt werden als Teilnahmeanträge oder Angebote aus der EU, der Freihandelszone der EU oder aus dem Kreis der GPA-Unterzeichnerstaaten. Eine Ausnahme gilt unter den dort genannten Voraussetzungen nur für Lieferaufträge im Sektorenbereich gemäß § 55 SektVO sowie für Unternehmen und Organisationen aus oder mit Bezug zu Russland gemäß Art. 5K Verordnung 2014/883/EU (sog. EU-Sanktionsverordnung).

Dr. Sven Brockhoff
CMS Hasche Sigle, Stuttgart
 

Dezember 2022

eVergabe: Maßgeblich für fristgerechte Angebotsabgabe ist vollständiger Upload auf den Server der Vergabeplattform, nicht Abrufbarkeit durch Auftraggeber

(VK Südbayern, Beschluss vom 15.11.2021 – 3194.Z3_01-21-20)

Der Auftraggeber schrieb Tiefbauleistungen im offenen Verfahren europaweit aus. In der Auftragsbekanntmachung wurde der Schlusstermin für die elektronische Angebotseinreichung auf den 11.03.2021, 10:00 Uhr bestimmt. Einer der Bieter reichte sein Angebot am letzten Tag ein. Die Vergabeplattform registrierte den Eingang seines Angebots um 10:00:03 Uhr. Der Auftraggeber schloss das Angebot wegen verspäteten Eingangs aus. Nachdem seiner Rüge nicht abgeholfen wurde, stellte der betroffene Bieter einen Nachprüfungsantrag.

Die Sachverhaltsaufklärung durch die VK Südbayern ergab, dass die verwendete Vergabeplattform den Zeitpunkt des Zugangs erst dann verzeichnet, wenn das Angebot dem Auftraggeber bereitgestellt wird und nicht schon nach dem vollständigen Upload der Datei. Wann genau der Upload durch den Bieter erfolgt war, ließ sich nicht mehr rekonstruieren. Es war aber davon auszugehen, dass die sich an den Upload anschließende Verschlüsselung der Datei und die Bereitstellung im Auftraggeberbereich mindestens sieben Sekunden gedauert hatte. Erst danach erhielt das Angebot den Zeitstempel 10:00:03 Uhr.

Der Nachprüfungsantrag hatte im Ergebnis Erfolg. Das Angebot durfte nach Auffassung der VK Südbayern nicht nach § 16 Nr. 1 VOB/A-EU wegen Verspätung ausgeschlossen werden. Zwar ende die Angebotsfrist, wenn sie mit 10:00 Uhr angegeben ist, um 'Punkt' 10 Uhr, d. h. um 10:00:00 Uhr, und nicht erst um 10:00:59 Uhr. Es sei aber vorliegend davon auszugehen, dass der Bieter das Angebot fristgerecht vor diesem Zeitpunkt abgegeben habe. 


 
Für eine fristgerechte Angebotsabgabe sei nämlich der vollständige Upload der übermittelten Angebotsdaten auf den Server der Vergabeplattform maßgeblich. Auf die interne Abrufbarkeit der Angebotsdatei durch den Auftraggeber komme es nicht an. Dies folge daraus, dass gemäß § 130 BGB für den Zugang eines Angebots auf den Eingang im Organisations- und Machtbereich des Auftraggebers abzustellen sei. Ab dem vollständigen Upload und dem Auslösen des Vorgangs 'Angebot verschlüsseln und im jeweiligen Auftraggeberbereich auf dem Vergabeportal ablegen' habe der Bieter auf die weiteren Vorgänge keinen Einfluss mehr. Nachfolgende Verzögerungen durch weitere Bearbeitungsschritte wie Verschlüsselung und Umspeichern in den gesicherten Auftraggeberbereich seien ausschließlich der Sphäre des öffentlichen Auftraggebers zuzuordnen. Dass der genaue Zeitpunkt des vollständigen Uploads von der Vergabeplattform nicht gespeichert wurde, dürfe dem Bieter nicht zum Nachteil gereichen. § 10 Abs. 1 Nr. 1 VgV ordne für die Dokumentation des Datenempfangs ausdrücklich an, dass die verwendeten elektronischen Mittel gewährleisten müssen, dass Uhrzeit und Tag des Datenempfangs genau zu bestimmen sind. Diesen Anforderungen genüge es nicht, wenn ausschließlich der Zeitpunkt gespeichert wird, in dem das hochgeladene Angebot nach Verschlüsselung in den Bereich des Auftraggebers eingestellt wird.

Dass es für den fristgerechten Eingang des Angebots auf den Zugang beim öffentlichen Auftraggeber i.S.d. § 130 BGB ankommt, ist in der Rechtsprechung anerkannt (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 07.07.2007 – 13 Verg 5/07, ZfBR 2007, 611, 612). Die Frage, welcher konkrete Bearbeitungsschritt für den Zugang elektronisch übermittelter Angebote entscheidend ist, war dagegen bisher ungeklärt. Die Entscheidung ist auch für die technische Ausgestaltung des elektronischen Vergabeverfahrens relevant. Aus Sicht öffentlicher Auftraggeber ist darauf zu achten, dass auch der Zeitpunkt des vollständigen Uploads erfasst wird, um Beweisschwierigkeiten zu vermeiden.

Annchristin Knoth
CMS Hasche Sigle, Stuttgart
 

November 2022

Unwirksamkeit einer De facto-Vergabe trotz 'Freiwilliger Ex-ante-Bekanntmachung' bei fehlender Dokumentation

(OLG Celle, Beschluss vom 09.11.2021 – 13 Verg 9/21)

Ein Tarif- und Verkehrsverbund für den öffentlichen Nahverkehr schloss mit dem Betreiber des örtlichen Fahrradverleihsystems eine Vereinbarung über ein sog. 'Systemsponsoring'.
Nach dem Inhalt der Vereinbarung waren ca. 1.000 Leihfahrräder gegen Vergütung mit dem Markenbranding des Verkehrsverbunds zu kennzeichnen und dessen Abonnement-Kunden für 30 Minuten je Mietvorgang kostenlos zur Verfügung zu stellen. Vor dem Abschluss des Vertrages hatte der Verkehrsverbund im Amtsblatt der EU eine 'Freiwillige Ex-Ante-Transparenzbekanntmachung' veröffentlicht. Darin hieß es, dass ein Verhandlungsverfahren ohne vorherige Bekanntmachung durchgeführt werde, weil die Leistung wegen nicht vorhandenem Wettbewerb aus technischen Gründen nur von einem bestimmten Wirtschaftsteilnehmer ausgeführt werden könne. Eine Konkurrentin, die in anderen größeren Städten ebenfalls Fahrradverleihsysteme betreibt, ging gegen den Vertragsschluss mit einer Rüge und einem Nachprüfungsantrag vor.

Die Vergabekammer Niedersachsen und das OLG Celle gaben der Konkurrentin Recht.
Bei dem 'Systemsponsoring' handele es sich der Sache nach um einen Dienstleistungsauftrag (§ 103 Abs. 4 GWB), der den (damals einschlägigen) Schwellenwert von EUR 214.000 für die Anwendung des Oberschwellenvergaberechts überschreite. Weil der Verkehrsverbund ohne gesetzliche Grundlage keine europaweite Ausschreibung vorgenommen habe, sei der Vertrag unwirksam (§ 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB). Insbesondere könne sich der Verbund nicht auf die Ausnahmevorschrift des § 14 Abs. 4 Nr. 2 VgV berufen, wonach Aufträge im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben werden können, wenn der Auftrag nur von einem bestimmten Unternehmen erbracht werden kann, weil aus technischen Gründen kein Wettbewerb vorhanden ist. Vorliegend sei nicht ersichtlich, dass bei den vertragsgegenständlichen Leistungen kein Wettbewerb vorhanden ist – etwa durch die antragstellende Konkurrentin. Der Auftraggeber habe auf die erforderlichen Nachforschungen und eine nähere Markterkundung offenbar verzichtet.
Eine Wirksamkeit des Vertrags ergebe sich auch nicht aufgrund der 'Freiwilligen Ex-Ante-Transparenzbekanntmachung'. § 135 Abs. 3 GWB setze voraus, dass der öffentliche Auftraggeber nach sorgfältiger Prüfung in vertretbarer Weise zu der Ansicht gelangt ist,
dass eine Auftragsvergabe ohne vorherige Bekanntmachung zulässig ist. Dies könne in der Regel nur dann festgestellt werden, wenn entsprechende nach außen erkennbare Tatsachen vorliegen. Um eine wirksame Kontrolle sicherzustellen, dürften die Anforderungen nicht zu gering sein. Eine entsprechende Feststellung sei vorliegend schon deshalb problematisch, weil entgegen § 8 VgV jegliche Dokumentation fehle. Dass die Auftraggeberin im Vorfeld des Vertragsschlusses eine Rechtsanwaltskanzlei beauftragte habe und sich auf deren Einschätzung verlassen habe, reiche für die Feststellung einer sorgfältigen Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht aus.

Die Entscheidung verdeutlicht, dass § 135 Abs. 3 GWB als Ausnahmevorschrift eng auszulegen ist. Sie zeigt zudem die Bedeutung Vergabevermerks (§ 8 VgV) in diesem Zusammenhang auf. Der Auftraggeber ist für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 135 Abs. 3 Nr. 1 GWB darlegungs- und beweispflichtig. Damit dieser Nachweis gelingen kannte, sollte die subjektive Überzeugung des Auftraggebers von der Rechtmäßigkeit seines Handelns und die hierfür tragenden Erwägungen im Vergabevermerk festgehalten werden.

Annchristin Knoth
CMS Hasche Sigle, Stuttgart




 

Oktober 2022

Begriff des 'Dienstleistungsauftrags' aus Sicht verständiger Bieter als öffentlicher Auftrag zu verstehen

(OLG Schleswig, Beschluss vom 28.10.2021 – 54 Verg 5/21)

Das Land Schleswig-Holstein hatte Verkehrsdienstleistungen im Schienenpersonennahverkehr in drei Losen (Ost, Nord und Ost-West) europaweit ausgeschrieben. Die Ausschreibung erfolgt im nichtoffenen Verfahren mit Teilnahmewettbewerb. Zu den Anforderungen an die technische und berufliche Leistungsfähigkeit hieß es in der Auftragsbekanntmachung u. a.: 'Die Bewerber haben zum Beleg ihrer technischen und beruflichen Leistungsfähigkeit mit dem Teilnahmeantrag Referenzen über früher ausgeführte Dienstleistungsaufträge im SPNV … vorzulegen.' Einer der Bieter legte als Referenz einen eigenwirtschaftlichen Personennahverkehr vor, für den sie Verträge mit Firmenkunden und Stammkundenverträge abgeschlossen hatte. Das Land beabsichtigte, diesem Bieter den Zuschlag für das Los Nord zu erteilen. Unter anderem hiergegen wandte sich eine unterlegene Bieterin mit einem Nachprüfungsantrag. Die Vergabekammer wies den Nachprüfungsantrag zurück, woraufhin die unterlegene Bieterin sofortige Beschwerde einlegte.

Das OLG Schleswig hat die Entscheidung der Vergabekammer aufgehoben und das Land angewiesen, das Vergabeverfahren für das Los Nord fortzuführen. Der vom Land ausgewählte Bieter habe seine technische und berufliche Eignung nicht ausreichend nachgewiesen. Es mangele an der Erfüllung der sich aus der Auftragsbekanntmachung im Wege der Auslegung (§§ 133, 157 BGB) ergebenden Mindesteignungsanforderung eines während der letzten sechs Jahre erbrachten öffentlichen Dienstleistungsauftrags, da die vorgelegte Referenz lediglich einen eigenwirtschaftlich erbrachten Verkehr betrifft. 

Für die Frage, welcher Erklärungswert Vergabeunterlagen zukomme, sei nach §§ 133, 157 BGB auf den objektiven Empfängerhorizont potenzieller Bieter abzustellen. Die
 Auftragsbekanntmachung betreffe, was einem verständigen und fachkundigen Bieter bekannt sei, die Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge i.S.v. Art. 2 i) der VO (EG) Nr. 1370/2007. Zwar lasse § 46 Abs. 3 Nr. 1 VgV für öffentliche Aufträge ausdrücklich Referenzen privater und öffentlicher Auftraggeber zu, sodass die Art des Auftrages keinen zwingenden Rückschluss auf die Art der Referenz zulasse. Auch spreche die Auftragsbekanntmachung lediglich von einem 'Dienstleistungsauftrag' ohne den Zusatz 'öffentlich'. Die Einschränkung auf einen öffentlichen Dienstleistungsauftrag ergebe sich jedoch mit der gebotenen Eindeutigkeit aus einer Gesamtbetrachtung der Eignungsanforderungen, insbesondere unter Berücksichtigung des vergabespezifischen Sinngehalts der Angaben in der Auftragsbekanntmachung: Der Begriff des Dienstleistungsauftrages sei ein lediglich im Vergaberecht verwendeter Rechtsbegriff, dem deutschen Zivilrecht sei er fremd. Daher könne ein verständiger Bieter im Kontext der Auftragsbekanntmachung unter dem Begriff 'Dienstleistungsauftrag' lediglich einen Dienstleistungsauftrag im vergaberechtlichen Sinne, also einen von einem öffentlichen Auftraggeber erteilten Auftrag, verstehen. In diesem Lichte habe ein verständiger Bieter auch die weiteren Angaben zu den Eignungsanforderungen dahingehend verstehen müssen, dass die sich auf für einen öffentlichen Auftraggeber erbrachten Schienenpersonennahverkehr bezogen.

Die vom OLG Schleswig gewählte enge Auslegung erscheint angesichts des Wortlauts der Bekanntmachung jedenfalls nicht zwingend. Zweifelhaft erscheint insbesondere die Argumentation anhand des deutschen Zivilrechts im Kontext einer europaweiten Ausschreibung. Öffentliche Auftraggeber, die auch Referenzen privater Auftraggeber anerkennen wollen, sollten dies zur Vermeidung von Zweifeln in der Ausschreibung explizit klarstellen.

Annchristin Knoth
CMS Hasche Sigle, Stuttgart




 

August 2022

Beschaffung von Rüstungsgütern ohne Vergabeverfahren: Voraussetzungen und Grenzen

(OLG Düsseldorf, Beschluss vom 18.08.2021 – Verg 51/20)

Ein öffentlicher Auftraggeber fordert verschiedene in Deutschland ansässige Marineschiffbau-Unternehmen zur Angebotsabgabe in einem Beschaffungsverfahren auf. Auf die Durchführung eines Vergabeverfahrens verzichtet der Auftraggeber unter Berufung auf § 107 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 GWB i.V.m. Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV. Diese Entscheidung begründet er damit, dass 'industrielle Kernfähigkeiten und strategisch relevante Entwicklungskapazitäten […] am Standort Deutschland und der EU zu erhalten und zu fördern' seien. Ein Werftunternehmen, das nicht zur Angebotsabgabe aufgefordert wurde, wendet sich gegen die unterbliebene Auftragsbekanntmachung. Die VK Bund weist den Nachprüfungsantrag als unstatthaft zurück. Gegen diese Entscheidung legt das Unternehmen sofortige Beschwerde ein, die es vor dem Verkündungstermin zurücknimmt.

Das OLG Düsseldorf hat dem Auftraggeber die Kosten des Beschwerdeverfahrens auferlegt, da das Rechtsmittel bei Fortgang des Beschwerdeverfahrens voraussichtlich erfolgreich gewesen wäre. Die Vorschrift des Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV gewähre den Mitgliedstaaten einen weiten Ermessensspielraum bei der Entscheidung über die Maßnahmen, die sie für den Schutz ihrer wesentlichen Sicherheitsinteressen für erforderlich halten. Es sei zudem grundsätzlich Sache der EU-Mitgliedstaaten, ihre wesentlichen Sicherheitsinteressen festzulegen. Ihnen komme dabei eine weite Einschätzungsprärogative zu. 
 
Für die Festlegung wesentlicher Sicherheitsinteressen genüge deshalb die begründete Annahme einer Gefahr der äußeren oder inneren Sicherheit. Die Mitgliedstaaten seien in ihrer Entscheidung, einen bestimmten Beschaffungsauftrag von den Regeln des Binnenmarkts auszunehmen, aber nicht uneingeschränkt frei. Vielmehr müsse der Mitgliedstaat, der sich auf die Ausnahme des Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV beruft, nachweisen, welche Sicherheitsinteressen konkret betroffen sind und welcher Zusammenhang zwischen diesen Sicherheitsinteressen und der konkreten Beschaffung besteht. Die Bewahrung wehrtechnischer Kernfähigkeit im Inland könne grundsätzlich ein von Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV gedecktes Sicherheitsinteresse darstellen. Rein wirtschaftspolitisch motivierte Maßnahmen ohne Rückwirkung auf die Verteidigungsfähigkeit der eigenen oder verbündeter Streitkräfte seien dagegen nicht gerechtfertigt. Das betroffene Sicherheitsinteresse müsse zudem wesentlich sein. Mögliche Ausnahmen seien auf Beschaffungen beschränkt, die von höchster Wichtigkeit für die militärischen Fähigkeiten sind. Unter Anwendung dieser Maßstäbe habe der Auftraggeber im vorliegenden Fall nicht hinreichend dargelegt, dass die Beschaffung wesentliche Sicherheitsinteressen berührt.

§ 107 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 GWB i.V.m. Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV ist als Ausnahmetatbestand eng auszulegen. Es existiert kein Automatismus dergestalt, dass bei sämtlichen Beschaffungen, die Rüstungsgüter betreffen, von der Durchführung eines Vergabeverfahrens abgesehen werden kann. Die vorliegende Entscheidung konkretisiert die Anforderungen an den vom Auftraggeber zu erbringenden Nachweis, dass der Verzicht auf ein Vergabeverfahren ausnahmsweise gerechtfertigt ist.

Annchristin Knoth
CMS Hasche Sigle, Stuttgart


 

Juli 2022

Grenzen des Angebotsausschlusses wegen Änderungen an den Vergabeunterlagen

(BayObLG, Beschluss vom 17.06.2021 – Verg 6/21)

Ein Klinikum schreibt einen Bauauftrag im Wege eines offenen Verfahrens europaweit aus. Einziges Zuschlagskriterium ist der Preis. An dem Vergabeverfahren beteiligen sich zwei Bieter. Die Auftraggeberin schließt das preislich günstigere Angebot nach § 16a EU Abs. 5 VOB/A aus. Hiergegen geht die ausgeschlossene Bieterin nach erfolgloser Rüge mit einem Nachprüfungsantrag vor. Die VK Südbayern untersagt der Auftraggeberin den Zuschlag auf das zweite, für den Zuschlag vorgesehene Angebot zu erteilen und verpflichtet sie, die Wertung der Angebote zu wiederholen. Zwar habe die Auftraggeberin das Angebot der ersten Bieterin zurecht ausgeschlossen. Das zweite Angebot sei aber gemäß § 16 EU Nr. 2, § 13 EU Abs. 1 Nr. 5 VOB/AB ebenfalls zwingend auszuschließen, da es Abweichungen von den Vergabeunterlagen enthalte. Die Bieterin habe Änderungen an der Berechnungsgrundlage für die Fahrtkosten bei Störungsbeseitigungen vorgenommen. Die Auftraggeberin und die zweite Bieterin wenden sich vor dem BayObLG gegen den Beschluss der VK, soweit diese den Nachprüfungsantrag aus dem Grund nicht zurückgewiesen hat, dass das Angebot der zweiten Bieterin nicht zuschlagfähig sei. Das BayObLG hatte zunächst über den Antrag der Auftraggeberin auf vorzeitige Gestattung des Zuschlags zu entscheiden.
Das BayObLG hält den Ausgang des Beschwerdeverfahrens bei summarischer Prüfung für offen. Zwar habe die Bieterin (wohl) Änderungen an den Angebotsunterlagen vorgenommen. Einem Ausschluss ihres Angebots könne aber möglicherweise entgegenstehen, dass die Abweichungen nur völlig untergeordnete Angaben betreffen, deren – hypothetisches – Fehlen nicht zu einem Ausschluss geführt hätte, sondern die nach § 16a EU Abs. 2 Satz 3 VOB/A hätten nachgefordert werden können. Zwar handele es sich bei § 16 EU Nr. 2 VOB/A um einen zwingenden Ausschlussgrund. Dies stehe aber einer Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (§ 97 Abs. 1 Satz 2 GWB) nicht entgegen. In Fallkonstellationen, in denen (1.) die Änderungen einen völlig untergeordneten Punkt betreffen, der nicht wertungsrelevant ist und möglicherweise bei der Durchführung des Vertrags keine Rolle spielt und in denen (2.) die Möglichkeit der Nachforderung bei Fehlen der Angaben bestanden hätte, könne es geboten sein, aus Gründen der Verhältnismäßigkeit von einem Ausschluss wegen Änderungen an den Vergabeunterlagen abzusehen.

Das BayObLG wirft vor dem Hintergrund der Entscheidung des BGH vom 18.06.2018 – X ZR 86/17 die Frage nach einer teleologischen Reduktion des Ausschlussgrundes nach § 16 EU Nr. 2, § 13 EU Abs. 1 Nr. 5 VOB/AB auf. Trotz der an sich zwingenden Natur des Ausschlussgrundes soll zu prüfen sein, ob ein Ausschluss mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 97 Abs. 1 Satz 2 GWB) vereinbar ist. Zu einer abschließenden Entscheidung des BayObLG kam es wegen der Rücknahme des Nachprüfungsantrags nicht.

Annchristin Knoth
CMS Hasche Sigle, Stuttgart  
 

Juni 2022

Vorbefassung: Funktionale Betrachtungsweise entscheidend

(VK Bund, Beschluss vom 21.09.2021 – VK 2-87/21)

Eine Krankenkasse schreibt die Vergabe eines Dienstleistungsauftrags für die Moderation und Begleitung eines internen Strategiezielprozesses europaweit im offenen Verfahren aus. Bei der vorausgegangenen Erarbeitung der Strategieziele, um deren Umsetzung es geht, ließ die Auftraggeberin sich von einem Dienstleister beraten. Obwohl dieser Dienstleister sich auch am späteren Vergabeverfahren beteiligte, macht die Auftraggeberin die Systemziele im Vergabeverfahren nicht allgemein für alle Bieter zugänglich. Am Ende des Vergabeverfahrens beabsichtigt die Auftraggeberin, den Zuschlag an den Dienstleister zu erteilen, der bereits die Erarbeitung der Systemziele begleitet hat. Das Angebot einer anderen Bieterin lehnt sie mit der Begründung ab, dass diese nicht präzise genug auf die Leistungsbeschreibung eingegangen sei und außerdem die bereits festgelegten Systemziele in Frage stelle. Hiergegen beantragt die unterlegene Bieterin nach erfolgloser Rüge Nachprüfung.
 
Die VK Bund gibt dem Nachprüfungsantrag statt. Die Auftraggeberin habe es unter Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz versäumt, einen wettbewerbsverzerrenden Wissensvorsprung der erfolgreichen Bieterin auszugleichen. Diese sei als vorbefasstes Unternehmen im Sinne von § 7 VgV anzusehen. Zwar war sie bei rein formaler Betrachtung nicht in die Vorbereitung des Vergabeverfahrens eingebunden. Der Beurteilung sei aber keine formale, sondern eine funktionale Betrachtungsweise zugrunde zu legen. Bei dem ersten Auftrag handele es sich bei funktionaler Betrachtung um eine Vorbereitung des vorliegenden Auftrags. Die Kenntnis der Ziele stelle daher einen relevanten Wettbewerbsvorteil dar, der geeignet sei, den Wettbewerb zu verzerren. Als Folge muss die Auftraggeberin bei fortbestehender Beschaffungsabsicht allen Bietern die vorab bearbeiteten Systemziele zugänglich machen.
Der Beschluss zeigt, dass eine Vorbefassung nicht nur bei einer Beteiligung an dem eigentlichen Vergabeverfahren oder einer ausdrücklich auf dessen Vorbereitung zielende Beauftragung vorliegen kann. Entscheidend ist vielmehr, ob bei funktionaler Betrachtung eine Vorbereitung des anschließend zu vergebenen Auftrags erfolgte. Liegt eine Vorbefassung vor, hat der öffentliche Auftraggeber ausreichende Maßnahmen zum Ausgleich des entstandenen Wettbewerbsvorteils zu ergreifen, hier durch Offenlegung der vorab erarbeiteten Systemziele.

Dr. Volkmar Wagner                                                          Annchristin Knoth
CMS Hasche Sigle, Stuttgart                                              CMS Hasche Sigle, Stuttgart
 

Mai 2022

Versenden von Vorabinformationsschreiben aus AI Vergabemanager setzt Wartefrist des § 134 Abs. 2 GWB in Gang

(VK Sachsen, Beschluss vom 28.07.2021 - 1/SKV/043-20)

Der Auftraggeber schrieb Montageleistungen im Wege eines europaweiten offenen Verfahrens aus. Für die Durchführung des Vergabeverfahrens nutzte der Auftraggeber die E-Vergabe-Technologie der AI Administration Intelligence AG. Die Antragstellerin wurde aufgrund unzureichend nachgewiesener Eignung von der Wertung ausgeschlossen. Das Informationsschreiben über den Ausschluss und die beabsichtigte Vergabe an einen anderen Bieter versandte der Auftraggeber aus dem AI Vergabemanager an das Bieterpostfach des von der Antragstellerin verwendeten Programms „AI Bietercockpit“. Nach Eingang der Nachricht im Bieterpostfach erhielt die Antragstellerin wenige Minuten später eine automatisch generierte E-Mail an die von ihr im Vergabeverfahren genutzte E-Mail-Adresse, wonach im Bieterpostfach bzw. auf der Vergabeplattform neu eingestellte Informationen zum Vergabeverfahren vorhanden seien. Sie rief die Vorabinformation am gleichen Tag ab. Nach Ablauf von 10 Tagen erteilte der Antragsgegner den Zuschlag an einen anderen Bieter. Die Antragstellerin begehrte zuletzt die Feststellung, dass der erteilte Zuschlag nach §§ 135 Abs. 1 Nr.1, 134 GWB unwirksam sei. Die Bereitstellung der Vorabinformation über die Vergabeplattform genüge nicht den Anforderungen des § 134 GWB und es fehle an einem fristauslösenden Absenden i.S.d. § 134 Abs. 2 GWB.

Die Vergabekammer Sachsen lehnte den Nachprüfungsantrag als unzulässig ab. Der Zuschlag sei wirksam erteilt worden. Das durch den AI Vergabemanager versendete Informationsschreiben entspreche dem Textformerfordernis des § 134 Abs. 1 GWB i.V.m. § 126b BGB. Voraussetzung für die Wahrung der Textform sei die Abgabe einer lesbaren Erklärung, in der die Person des Erklärenden genannt ist, auf einem dauerhaften Datenträger. Diesen Anforderungen sei genügt, weil die durch den AI Vergabemanager versendeten Nachrichten sowohl im Bieterbereich der Vergabeplattform als auch im Bietercockpit für einen angemessenen Zeitraum unverändert wiedergegeben werden sowie aufbewahrt, ausgedruckt und gespeichert werden könnten.
Der Auftraggeber könne sie nicht nachträglich löschen, verändern oder zurückrufen. Die Vorabinformation sei vom Auftraggeber auch i.S.d. § 134 Abs. 2 GWB elektronisch versendet worden und die Wartefrist des § 134 Abs. 2 Satz 2 GWB damit in Gang gesetzt. Für den Fristbeginn komme es darauf an, wann der Auftraggeber sich der schriftlichen Mitteilung an die betroffenen Bieter entäußere, wann er diese Schriftstücke also so aus seinem Herrschaftsbereich herausgegeben habe, dass sie die Bieter bei bestimmungsgemäßem Verlauf erreichen. Bei der verwendeten Vergabeplattform sei hiermit mit Absenden zu rechnen.

Mit dieser Entscheidung weicht die Vergabekammer Sachsen ausdrücklich von einer Entscheidung der Vergabekammer Südbayern aus dem Jahr 2019 ab (Beschluss vom 29.03.2019 – ZR3-3-3194-1-07-03/19). Die Vergabekammer Südbayern hatte die Auffassung vertreten, dass die Mitteilung nach § 134 GWB nicht dadurch erfolgen könne, dass die Informationen nach § 134 Abs. 1 Satz 1 GWB lediglich in einem internen Bieterbereich auf einer Vergabeplattform eingestellt wird, wo der Bieter sie abrufen kann. Wie hier hatte zuletzt auch schon die Vergabekammer Saarland (Beschluss vom 22.03.2021 – 1 VK 06/2020) entschieden.

Zu beachten ist, dass Gegenstand der genannten Entscheidungen jeweils unterschiedliche Vergabemanager mit im Einzelnen voneinander abweichenden technischen Konzeptionen sind. Es ist daher stets im Einzelfall anhand der technischen Eigenschaften der verwendeten Software zu überprüfen, ob der Versand bzw. die Bereitstellung von Informationsschreiben über die Vergabeplattform dem Textformerfordernis des § 134 Abs. 1 Satz 1 GWB genügt und die Wartefrist des § 134 Abs. 2 GWB auslöst.

Annchristin Knoth
CMS Hasche Sigle, Stuttgart

April 2022

Auftraggeber kann sich der Pflicht zur Aufklärung widersprüchlicher Angebote nicht durch Vorabauschluss in Vergabeunterlagen entziehen

(VK Bund, Beschluss vom 23.07.2021 – VK 2-75/21)

Die Auftraggeberin schrieb eine Rahmenvereinbarung über Bewachungsleistungen im nichtoffenen Verfahren mit Teilnahmewettbewerb europaweit aus. Aus den mit der Aufforderung zur Angebotsabgabe übersandten Vergabeunterlagen ging hervor, dass in jeder Schicht eine Besetzung durch insgesamt fünf Wachpersonen gefordert ist. Als Teil der Angebote war u.a. die Vorlage eines 'konzeptionellen Teils' einschließlich eines Monats-Musterdienstplans gefordert. Die Vergabeunterlagen enthielten dazu weiter folgende Erklärung: 'Die Ausführungen im konzeptionellen Teil werden durch die Bewertungskommission Qualität einer Schlüssigkeitsprüfung unterzogen. (…) Die Nichtabgabe eines Konzepts, bzw. unschlüssige Ausführungen führen zum Ausschluss des Angebots.' Ein Bieter reichte einen Musterdienstplan ein, der die Einteilung von jeweils nur vier Wachpersonen pro Schicht vorsah. Abweichend hiervon sah sein als Anlage zum Vertrag eingereichtes Personalkonzept fünf Wachpersonen pro Schicht vor. Der Auftraggeber schloss das Angebot wegen Unschlüssigkeit aus. Dagegen wandte sich der Bieter mit einer Rüge und einem Nachprüfungsantrag.

Die VK Bund entschied, dass der Ausschluss des Bieters rechtsfehlerhaft war. Der Ausschlusstatbestand des § 31 Abs. 2 Nr. 4 VSVgV, wonach Angebote ausgeschlossen werden, bei denen Änderungen oder Ergänzungen an den Vergabeunterlagen vorgenommen worden sind, sei nicht verwirklicht.
 
Zwar sei das abgegebene Angebot in sich widersprüchlich. Dies stelle aber nicht unmittelbar und direkt einen Ausschlussgrund dar, sondern das Angebot bedürfe vielmehr der Aufklärung. Liege ein Eintragungsfehler oder Versehen nahe, reduziere sich das Aufklärungsermessen des Auftraggebers auf eine Aufklärungspflicht. Der Pflicht zur Aufklärung widersprüchlicher Angebote könne sich der Auftraggeber auch nicht durch einen entsprechenden Ausschluss in den Vergabeunterlagen entziehen. Die Aufklärungspflicht ergebe sich aus dem für das Vergabeverfahren zentralen Wettbewerbsgrundsatz. Wirtschaftlich gute Angebote sollten nicht aus formellen Gründen ausgeschlossen werden, wenn sich ein Ausschluss vergaberechtskonform vermeiden lässt. Anders als für die Nachforderung von Unterlagen gemäß § 56 Abs.  2 Satz 2 VgV, für die eine ausdrückliche Vorabausschlussmöglichkeit vorgesehen ist, komme aus diesen Gründen ein genereller Vorabschluss der Aufklärung widersprüchlicher Angebote nicht in Betracht.

Die Erwägungen der VK sind auf die § 31 Abs. 2 Nr. 4 VSVgV entsprechenden Ausschlussgründe in anderen Vergabeordnungen übertragbar. Von der Rechtsprechung wird zunehmend darauf hingewiesen, dass vor einem Ausschluss wegen Änderung der Vergabeunterlagen häufig eine Aufklärung geboten ist (vgl. BH, Urteil vom 18.06.2019 – X ZR 86/17; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 02.08.2017 – Verg 17/17). Die VK Bund schließt sich dieser Rechtsprechung an und ergänzt sie um die Maßgabe, dass eine nach den bekannten Grundsätzen gebotene Aufklärung auch nicht pauschal in den Angebotsunterlagen ausgeschlossen werden kann.

Annchristin Knoth
CMS Hasche Sigle, Stuttgart

 

März 2022

Rügeobliegenheit nicht schon bei Meinungsverschiedenheiten, sondern erst bei Rechtsverstoß

(VK Bund, Beschluss vom 08.07.2021 – VK 1-48/21)

Die Antragsgegnerinnen, zwei Sektorenauftraggeber, führten ein europaweites Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb zur Vergabe von Planungsleistungen für den Neubau einer Eisenbahnstrecke durch. Der Zuschlag sollte anhand der Kriterien Preis und Qualität vergeben werden. Dabei behielten sich die Antragsgegnerinnen vor, den Zuschlag ohne weitere Verhandlung auf eines der eingegangenen Angebote zu erteilen. Nach erfolgreichem Teilnahmewettbewerb gab die Antragstellerin ein Angebot ab, dessen Preis erheblich unter dem der übrigen Bieter lag. Nach mehrfacher schriftlicher Aufklärung des Angebotspreises der Antragstellerin fand am 03. März 2021 ein Aufklärungsgespräch zwischen den Antragsgegnerinnen und der Antragstellerin statt. In dessen Verlauf stellte sich heraus, dass beide Seiten abweichende Vorstellungen von Umfang und Gegenstand der ausgeschriebenen Planungsleistungen hatten. Das niedrige Angebot der Antragstellerin beruhte maßgeblich auf der von ihr zugrunde gelegten Auslegung der ausgeschriebenen Leistung. Am 25. März 2021 informierten die Antragsgegnerinnen die Antragstellerin darüber, dass ihr Angebot ausgeschlossen werde, da es nicht dem vorgegebenen Leistungssoll entspreche. Nachdem die Antragsgegnerinnen einer Rüge der Antragstellerin vom 30. März 2021 nicht abgeholfen hatten, beantragte die Antragstellerin am 22. April 2021 die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens. Die Antragsgegnerinnen waren der Auffassung, dass die Rüge zu spät erhoben sei, da die Antragstellerin spätestens seit dem Aufklärungsgespräch positive Kenntnis davon gehabt habe, dass die Antragsgegnerinnen ein aus Sicht der Antragstellerin unzutreffendes Verständnis von den Vergabeunterlagen hätten. Darüber hinaus habe die Antragstellerin die Antragsfrist des § 160 Abs. 3 Nr. 4 GWB versäumt.

Die VK Bund bejahte die Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags. Die Rüge der Antragstellerin sei rechtzeitig erfolgt. Eine Rügeobliegenheit i.S.d. § 160 Abs. 3 GWB entstehe erst, wenn ein Vergaberechtsverstoß vorliegt, der den Bieter in seinen Rechten verletzt. Die Antragstellerin habe daher noch nicht die Aufklärungsersuchen der Antragsgegnerinnen oder das Aufklärungsgespräch rügen müssen. In dem Gespräch habe sich zwar herausgestellt, dass das Verständnis hinsichtlich des Ausschreibungsgegenstands voneinander abweicht.
Dies allein sei jedoch kein rügefähiger Vergaberechtsverstoß. Zulasten der Antragstellerin habe sich dieses Verständnis der Antragsgegnerinnen erst in der Ausschlussentscheidung vom 25. März 2021 manifestiert.Die sich an diesen (angeblichen) Vergaberechtsverstoß anschließende Rüge der Antragstellerin sei gemäß § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB rechtzeitig erfolgt. Die Antragstellerin habe auch nicht die Antragsfrist des § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 GWB versäumt. Maßgeblich für die Berechnung der 15-Tage-Frist sei nicht die Mitteilung der Antragsgegnerinnen vom 25. März 2021, dass das Angebot der Antragstellerin auszuschließen sei, da auf dieses Schreiben hin erst eine Rügeobliegenheit der Antragstellerin entstanden sei. Damit sei das Schreiben schon mangels vorheriger Rüge keine Nichtabhilfemitteilung i.S.d. § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 GWB gewesen.

Der Nachprüfungsantrag sei aber unbegründet. Das Angebot sei zu Recht wegen Änderungen an den Vergabeunterlagen ausgeschlossen worden. Zwar sei ein Ausschlusstatbestand wegen Änderungen an den Vergabeunterlagen in der SektVO nicht ausdrücklich geregelte. Die Gelten eines solchen Ausschlusstatbestands auch in der SektVO ergebe sich aber aus den allgemeinen vergaberechtlichen Grundsätzen der Transparenz und Geleichbehandlung der Bieter (§ 1 SektVO i.V.m. § 97 Abs. 1, 2 GWB). Dem Angebotsausschluss stehe auch nicht entgegen, dass es sich um ein Verhandlungsverfahren handelte. Zwar könnten in Verhandlungsverfahren Abweichungen vom ausgeschriebenen Angebotsinhalt grundsätzlich noch in den nächsten Verhandlungsrunden beseitigt werden. Etwas anderes gelte aber, wenn sich der öffentliche Auftraggeber i.S.d. § 15 Abs. 4 SektVO ausdrücklich vorbehalten hat, den Zuschlag gegebenenfalls auf die Erstangebote zu erteilen und sich entschieden hat, von diesem Vorbehalt tatsächlich Gebrauch zu machen. Dann seien die Erstangebote nicht indikativer Natur, sondern final und ein Angebot, das die ausgeschriebenen Anforderungen nicht erfüllt, auszuschließen. Das Angebot der Antragstellerin habe nicht den ausgeschriebenen Vorgaben entsprochen.

Annchristin Knoth
CMS Hasche Sigle, Stuttgart
 

Februar 2022

Ablauf der Wartefrist des § 134 Abs. 2 GWB auch an Samstagen, Sonn- und Feiertagen

(VK Bund, Beschluss vom 28.06.2021 – VK 2-77/21)

Öffentliche Auftraggeber müssen Bieter, deren Angebote nicht berücksichtigt werden sollen, in Textform über das Unternehmen, dessen Angebot angenommen werden soll, die Gründe der Nichtberücksichtigung und den frühesten Zeitpunkt des Zuschlags informieren (§ 134 Abs. 1 GWB). Der Zuschlag darf je nach Übermittlungsart erst nach einer Wartefrist von 15 bzw. zehn Kalendertagen nach Absendung der Information geschlossen werden (§ 134 Abs. 2 GWB). Dies soll dem unterlegenen Unternehmen effektiven Primärrechtsschutz ermöglichen. Vorliegend schrieb die Antragsgegnerin Leistungen in einem europaweiten offenen Verfahren aus. Am 10. Juni 2021 informierte die Antragsgegnerin die Antragstellerin mit auf elektronischem Weg übermittelten Schreiben, dass auf ihr Angebot der Zuschlag nicht erteilt werden könne. Beabsichtigt sei, „den Zuschlag nach Ablauf der in § 134 Abs. 2 GWB genannten Frist (zehn Kalendertage) auf das Angebot“ der Beigeladenen zu erteilen. Der Zuschlag werde frühestens am Montag, den 21. Juni 2021, erfolgen. Am 21. Juni 2021 um 7:52 Uhr erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen den Zuschlag. Die Antragstellerin macht im Nachprüfungsverfahren geltend, dass die Antragsgegnerin den Zuschlag noch nicht am 21. Juni 2021 habe erteilen dürfen, weil die Frist von zehn Kalendertagen nach § 134 Abs. 2 Satz 2 GWB erst mit Ablauf des 21. Juni abgelaufen sei. Eine Zuschlagserteilung sei daher erst am 22. Juni zulässig gewesen. Zwar sei das Fristende sei rechnerisch zwar auf Sonntag, den 20. Juni gefallen. Da es sich bei diesem um einen Sonntag handelte, habe sich das Fristende aber gemäß § 193 BGB auf den nächsten Werktag verschoben.
 
Der Nachprüfungsantrag blieb ohne Erfolg. Die VK Bund verwarf den Antrag als nicht statthaft, da die Antragsgegnerin den Zuschlag wirksam an die Beigeladene erteilt habe. Der Zuschlag sei nicht nach § 135 Abs. 1 Nr. 1 GWB unwirksam. Die Antragsgegnerin habe den Zuschlag am 21. Juni 2021 um 7:52 Uhr wirksam erteilen dürfen. Die Frist des § 134 Abs. 2 Satz 2 GWB von zehn Kalendertagen sei nämlich bereits am Sonntag, den 20. Juni abgelaufen. Das Fristende verschiebe sich nicht nach § 193 BGB auf den folgenden Werktag. § 193 BGB finde auf die Frist nach § 134 Abs. 2 GWB keine Anwendung, da es sich bei der Frist nach § 134 Abs. 2 GWB um eine rein nach Kalendertagen bemessene Wartefrist (Stillhaltefrist“) handele, nicht aber um eine Frist, binnen der eine Willenserklärung abzugeben oder eine Leistung zu bewirken ist. Dies folge aus dem klaren Wortlaut des § 134 Abs. 2 Satz 1, 2 GWB, wonach ein Vertrag zehn Kalendertage „nach Absendung der Information nach Absatz 1 geschlossen werden“ darf. Etwas anderes folge auch nicht aus Art. 3 Abs. 4 der Verordnung (VO) (EWG) Nr. 1182/71.

Die Entscheidung der VK Bund stellt klar, dass es in Fällen, in denen der letzte Tag der Stillhaltefrist des § 134 Abs. 2 GWB auf einen Sonnabend, Sonntag oder Feiertag fällt, nicht zu einer Verschiebung der Frist auf den Ablauf des nächsten Werktages kommt. Die Entscheidung bestätigt die bereits bisher überwiegende Auffassung (VK Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 21.06.2018 – 1 VK LSA 13/18; vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14.05.2008 – VII-Verg 11/08 zu § 13 Satz 2 VgV a.F.).


Annchristin Knoth
CMS Hasche Sigle,
Stuttgart
 

Januar 2022

VK Berlin: Unzulässige Nachverhandlung, aber kein Ausschluss?!

(VK Berlin, Beschluss vom 25.06.2021 – VK B 2-7/21)

Der Auftraggeber schrieb die Beschaffung von Abbrucharbeiten in einem offenen Verfahren europaweit aus. Nach Ablauf der Angebotsfrist vereinbarte der Auftraggeber mit dem Bestbieter im Rahmen eines Aufklärungsgesprächs eine Anpassung der Ausführungsfristen, nachdem sich das Vergabeverfahren wider Erwarten verzögert hatte. Es wurde zudem vereinbart, dass keine Kosten für einen etwaigen Annahmeverzug geltend gemacht werden dürfen. Gegen die geplante Auftragsvergabe wandte sich ein unterlegener Konkurrent mit einer Rüge und einem Nachprüfungsantrag, in dem er u.a. einen Verstoß gegen das Nachverhandlungsverbot geltend machte.

Die VK Berlin gab dem Konkurrenten Recht. Zur Begründung führte die VK Berlin aus, dass Auftraggeber mit den Bietern im offenen Verfahren nicht verhandeln dürfen. Dies gelte auch im Rahmen der Aufklärung der Angebote. Eine Zuschlagserteilung zugunsten des Bestbieters sei daher aufgrund eines Verstoßes gegen das Nachverhandlungsverbot nicht möglich. Das Vergabeverfahren sei vielmehr zurückzuversetzen und bei fortbestehender Beschaffungsabsicht mit einer erneuten Aufforderung zur Angebotsabgabe fortzusetzen. In diesem Rahmen müsse auch der bisherige Bestbieter die Möglichkeit zur Angebotsabgabe erhalten. Maßgeblich sei, dass nur das nachverhandelte Angebot des Bestbieters auszuschließen ist, nicht aber das innerhalb der Angebotsfrist abgegebene (nicht nachverhandelte und daher ordnungsgemäße) Angebot. Auch ein sonstiger Ausschlussgrund liege bezüglich des bisherigen Bestbieters nicht vor.
 


Diesen Grundsätzen ist zuzustimmen. Eine lediglich bilaterale Änderung des Terminplans mit dem Bestbieter ist unzulässig und führt zur Zurückversetzung des Vergabeverfahrens. Interessant ist dabei auch der Hinweis der VK Berlin, dass es grundsätzlich möglich ist, den Zuschlag ohne Anpassung des Terminplans zu erteilen und den Terminplan erst nach Zuschlagserteilung im Einvernehmen mit dem Auftragnehmer anzupassen. Diese sog. vertragsrechtliche Lösung hatte kürzlich auch der BGH abgesegnet (vgl. Urteil vom 03.07.2020 - VII ZR 144/19). Aus der Sicht des Auftraggebers ist eine solche Vorgehensweise allerdings mit dem Nachteil verbunden, dass häufig offen ist, ob mit dem späteren Auftragnehmer eine angemessene Einigung bezüglich des neuen Terminplans erzielt werden kann. Sofern dies vermieden werden soll, bleibt dem Auftraggeber in vergleichbaren Fällen nichts anderes übrig, als auf der Grundlage des neuen Terminplans erneut zur Angebotsabgabe aufzurufen.

Dr. Sven Brockhoff
CMS Hasche Sigle,
Stuttgart